Herr Josef Giebenrath, Zwischenhändler und Agent, ist ein durchschnittlicher Bürger und hebt sich durch nichts von seinen Mitbürgern ab. Aber sein Sohn, Hans, wird von allen als sehr begabter Schüler geschätzt. So wird er als einziger von der Stadt, für das Landexamen auserwählt. Daher besteht sein Tagesablauf fast nur aus Lernen. Bis vier Uhr dauert die Schule, dann bekommt er vom Rektor eine Extralektion Griechisch und um sechs unterrichtet ihn der Stadtpfarrer in Latein und Religion.
Am letzten Abend vor der Abfahrt nach Stuttgart, geht er noch eine Stunde spazieren. Währenddessen kommen ihm einige Gedanken an frühere Zeiten. Er erinnert sich, wie gern er immer geangelt hat. Auch im Garten ist er schon lange nicht mehr gewesen. Dort hat er mit seinem Schulfreund August gespielt und den Hasenstall gebaut. Aber als die Streberei losging mußte er das alles aufgeben. An diesem Abend geht er bald zu Bett, und erwartet mit gemischten Gefühlen den nächsten Tag.
Sogar der Rektor ist zum Bahnhof gekommen, um sich zu verabschieden. Sein Vater kann vor Aufregung, Freude und Stolz gar nicht stillstehen. Ermüdet von den Strapazen der langen Reise kommen sie in Stuttgart an. Dort empfängt sie die Tante, bei der sie untergebracht sind. Als er erfährt, daß nur 36 von den 118 Kandidaten aufgenommen werden, läßt er alle Hoffnungen fallen. Am nächsten Morgen beeilt er sich um nicht zu spät zur Prüfung zu kommen. Danach kommt er mit gutem Gefühl nach Hause, und ist voll Zuversicht für die folgenden Prüfungen.
Am anderen Tag kommt Griechisch und danach deutscher Aufsatz an die Reihe. Die griechische Arbeit ist ziemlich lang und das Aufsatzthema ist heikel und kann mißverstanden werden. Zu Hause bei Tisch sagt er kein Wort, sondern er schüttelt auf alle Fragen nur den Kopf. Seine Tante tröstet ihn, aber der Vater regt sich auf. Am Nachmittag kommen die gleichen Fächer mündlich an die Reihe.
Am nächsten Vormittag muß er noch zu den Prüfungen in Religion und Rechnen. Während sein Vater danach noch nach Cannstatt fährt, ist er bereits auf der Reise nach Hause. Auf Fragen der Bekannten in der Stadt, antwortet er, daß es ihm bei den Prüfungen sehr schlecht ging und er wahrscheinlich durchgeflogen sei. Am nächsten Tag kommt sein Vater heim und sagt zu Hans, daß er sich etwas wünschen darf, wenn er besteht. Er entscheidet sich für seine große Leidenschaft, das Angeln.
Montag früh geht er wieder in die Schule, und wartet ungeduldig auf den Bericht aus Stuttgart. Um 2 Uhr ruft ihn dann der Lehrer ins Schulzimmer.
Leseprobe: S.34
"Hans Giebenrath" rief er laut. Hans trat vor. Der Lehrer gab ihm die Hand. "Ich gratuliere dir, Giebenrath. Du hast das Landexamen als zweiter bestanden." Es entstand eine feierliche Stille. Die Tür ging auf und der Rektor trat herein.
"Ich gratuliere. Nun, was sagst du jetzt?" Der Bub war ganz gelähmt vor Überraschung und Freude. "Na, sagst du gar nichts?"
"Wenn ich das gewußt hätte", fuhr es ihm heraus, "dann hätt´ ich vollends Primus werden können."
"Nun geh´ heim", sagte der Rektor, "und sag´ es deinem Papa. In die Schule brauchst du jetzt nicht mehr zu kommen, in acht Tagen fangen ohnehin die Ferien an."
Sofort holt er sich seine Angelausrüstung und genießt seine um eine Woche verlängerten Sommerferien. Stundenlang sitzt er mit seiner Rute am Fluß, hoffend auf einen guten Fang. Umsomehr freut er sich, als ein dicker Karpfen anbeißt. Am nächsten Morgen klopft Hans mit einigen Fischen in der Hand, an die Tür des Stadtpfarrers. Dieser empfängt ihn fröhlich, und bedankt sich für die Fische. Der Pfarrer fragt Hans, ob er während den Sommerferien bei ihm über das neutestamentliche Griechisch lernen will, um später im Seminar einen Vorteil zu haben. Er erklärt sich damit einverstanden, und beginnt bereits Tags darauf mit dem Unterricht.
Auf dem Weg zum Pfarrer trifft er den Schuster Flaig. Dieser ist wie die meisten Leute sehr konservativ eingestellt, und warnt Hans vor dem progressiven Pfarrer, der der Bibel sehr kritisch gegenüber steht. Die Stunden beim "neumodischen Geistlichen" findet er viel interessanter als die Stunden in der Schule. Der Lehrer erzählt ihm über die Zeit und Weise der Entstehung des Neuen Testaments und erweckt in Hans einen Ehrgeiz.
Eines Abends erscheint der Rektor im Hause Giebenrath. Er bietet Hans an in den Ferien für das Seminar ein wenig vorauszuarbeiten. Die Stunden beim Mathematiklehrer findet Hans aber nicht so vergnüglich wie die Griechischstunden beim Pfarrer. In den letzten Ferienwochen kommt er wieder öfters zum Angeln und Baden, weil der Rektor und der Pfarrer nicht mehr soviel von ihm verlangen. Auch der Schuster Flaig meint, daß es Hans gesundheitlich nicht so gut geht, weil Ferien nicht zum Stubenhocken und Weiterlernen da seien, sondern zum richtigen Ausruhen. Als die Ferien zu Ende sind, fahren Vater und Sohn zum Seminar nach Maulbronn.
Dort angekommen, hilft ihm sein Vater beim Auspacken seiner Sachen und Hans wird eine Stube mit neun weiteren Kameraden zugeteilt. Einer der neun fällt Hans besonders auf. Es ist dies Hermann Heilner, ein Schwarzwälder aus gutem Hause. Er sieht ihn öfters beim See alleine sitzen während die anderen in der Stube das hebräische Alphabet lernen. Er bezeichnet die anderen als lauter Langweiler und Duckmäuser. Für Hans ist Heilner ein Schwärmer und ein Dichter, einer der herzlich wenig arbeitet, aber doch viel weiß und gute Antworten zu geben verstand. Hermann steht dem Seminar sehr negativ gegenüber, und fällt dadurch bei den Lehrern schlecht auf. Er sagt zu Hans, daß wir Homer lesen wie wenn die Odyssee ein Kochbuch wäre. Noch an diesem Abend beginnt Heilner einen Streit mit einem anderen Kameraden. Eine Weile bleibt er ruhig, witzig und überlegen. Doch dann läßt er sich zu einer Ohrfeige hinreißen, und bald entfacht ein wilder Kampf. Am Ende geht Heilner als weinender Verlierer aus dem Streit hervor. Dann verläßt er die Stube und nach einer Viertelstunde folgt ihm sein Freund Hans. Er tröstet ihn und es entwickelt sich eine innige Freundschaft.
Durch ähnliche Vorfälle wird er zum Außenseiter und bekommt einen schweren Karzer. Dies bedeutet, daß es für die Schüler schlecht sei, sich mit ihm abzugeben. Auch sein bester Freund muß die Freundschaft abbrechen. Dies führt zu einer Auseinandersetzung zwischen Hans und Hermann. Heilner nennt ihn einen gemeinen Feigling, und Hans leidet am Gefühl seiner Feigheit, denn er weiß, daß es seine Pflicht wäre ihm zu helfen.
Am 24. Dezember beginnen nun die Weihnachtsferien, und Hans fährt mit dem Zug heim zu seinem Vater. Doch zu Hause gibt es kein richtiges Christfest, denn die Mutter ist nicht mehr da, und außerdem fehlt ein Tannenbaum. Herr Giebenrath versteht es auch nicht zu feiern.
Nach den Ferien versöhnt er sich mit Hermann wieder. Das ist aber den Lehrern ganz und gar nicht recht.
Die Leistungen in der Schule verschlechtern sich immer mehr. An Größe und Magerkeit kommt er Heilner nun gleich und entwickelt sich immer mehr zu einem Einzelgänger. Eines Tages macht sich das Fehlen Heilners im Unterricht bemerkbar. Eine Stunde später suchen drei Lehrer und einige Schüler nach ihm. Als man ihn um 5 Uhr noch immer nicht findet, telegraphiert man an alle Polizeistellen und schickt einen Eilbrief an Heilners Vater. Die meisten Schüler glauben, daß Hans von der Sache etwas wisse. Aber dem ist nicht so. Vielmehr ist er der Erschrockendste und der Bekümmertste von allen. Nachts im Schlafsaal kann er lange Zeit aus Angst um seinen Freund nicht einschlafen.
Zur selben Stunde liegt Heilner ein paar Meilen entfernt in einem Gehölz. Dort verbringt er die Nacht bis er von einem Landjäger gefunden wird. Die Aufregung im Kloster ist groß, als er wieder zurückgebracht wird. Die Lehre erwarten von ihm, daß er sich schämt. Er bereut aber seine kleine Geniereise nicht im Geringsten. Dies veranlaßt sie ihn von der Schule zu weisen. Durch dieses Ereignis wird Hans noch mehr zum Außenseiter.
Er hat nun keinen einzigen wahren Freund mehr, und die Lehrer werden immer unzufriedener mit ihm. Ein väterlicher Brief beschwört ihn voll Entsetzen sich zu bessern. Einmal wird er in der Mathematikstunde aufgefordert an der Wandtafel eine geometrische Figur zu zeichnen und den Beweis dazu zu führen. Er tritt heraus, aber vor der Tafel wird ihm schwindlig. Er fährt mit Kreide und Lineal sinnlos in der Fläche herum, läßt beides fallen, und als er sich danach bückt, bleibt er selber am Boden knien und kann nicht wieder aufstehen.
Der Oberamtsarzt ist ziemlich ärgerlich, daß sein Patient sich solche Streiche leistet. Er empfiehlt sofortigen Erholungsurlaub und die Zuziehung eines Nervenarztes. Als er zu Hause ankommt, erwartet ihn sein Vater mit einer gespielten Freundlichkeit. Zum ersten mal kommen in ihm Selbstmordgedanken auf. Er fragt sich, wieso er sich noch nicht an jenem schönen ausgesuchten Ast erhängt hat. Der Gedanke ist gefaßt, sein Tod ist eine beschlossene Sache. Dabei erholt er sich in letzter Zeit so gut und er kostet in diesen letzten Tagen den schönen Sonnenschein und das einsame Träumen aus, wie man es vor einer weiten Reise tut.
Nun ist sein Vater fest entschlossen, ihn entweder Schreiber werden oder ein Handwerk lernen zu lassen. Tags darauf trifft er August, einen ehemaligen Schulkameraden, der jetzt erster Lehrling geworden ist. Er erzählt ihm sein Anliegen wegen dem Mechanikerwerden. August meint, daß es ein sehr harter Beruf sei. Hans wird sogleich kleinlaut. Er fragt, ob er denn nicht Mechanikerlehrling werden sollte. August erwidert darauf, daß es nur am Anfang hart sei, weil er im Seminar nicht hart arbeiten gelernt hat.
Der Freitag, an dem er in die Mechanikerwerkstatt eintreten soll, kommt näher. Der Vater kauft ihm einen blauen Leinenanzug und eine blaue Halbwollene Mütze. Er probiert das Zeug an und kommt sich in der Schlosseruniform verändert und ziemlich lächerlich vor. Schließlich ist er froh, als der anfangs mit Bangen erwartete Freitag da ist. Zeitig am Morgen legt er das neue blaue Arbeitskleid an, setzt die Mütze auf und geht ein wenig zaghaft die Gerbergasse hinunter zum Schulerschen Haus. In der Werkstatt wird schon bald flott gearbeitet. Der Meister ist gerade beim Schmieden. Er hat ein Stück rotwarmes Eisen auf dem Amboß, ein Geselle führt den schweren Vorhammer, der Meister tut die feinen Schläge. August nickt seinen eintretenden Kameraden zu und deutet ihm, er soll an der Tür warten bis der Meister Zeit für ihn hat. Als der Meister sein Stück fertig geschmiedet hat, kommt er herüber, und streckt ihm seine Hand entgegen. Dann führt er ihn vor den hintersten Schraubstock, und zeigt ihm vor allem, wie er mit dem Schraubstock umgehen, und die Werkbank samt den Werkzeugen in Ordnung halten müsse. Er spannt ein Rad in den Schraubstock, nimmt eine alte Feile her und zeigt wie es zu machen sei. Nun befiehlt er Hans bis Mittag an diesem Rad zu feilen.
In der Mittagspause bekommen sie ein Stück Brot und ein Glas Most. Hans fragt, was das für ein Rad sei, das er abzufeilen habe, und er erfuhr, es gehöre zu einer Turmuhr. August will ihm noch zeigen, wie es später zu laufen und zu arbeiten habe, aber da fängt der erste Geselle wieder zu feilen an, und alle gehen schnell an ihre Plätze.
Am Abend schlendert er mit den Gesellen zum Anker, ein feines Lokal, also kein altes Bauernwirtshaus, sondern ein moderner Backsteinwürfel mit zu vielen Fenstern. Das Bier ist vorzüglich, kühl und nicht zu bitter, und Hans läßt sich sein Glas völlig schmecken. August trinkt mit Kennermiene, schnalzt mit der Zunge und raucht nebenher wie ein schlechter Ofen, was Hans still bewundert. Beim dritten Glas fragt Hans, ob es denn keine Kuchen gebe. Man ruft der Kellnerin, doch diese verneint, worüber alle sich schrecklich aufregten. Als die Zeche bezahlt ist, und alle auf die Straße treten, beginnt Hans seine drei Schoppen ein wenig zu spüren. Sie suchen ein anderes Gasthaus auf, und als sie dort bleiben, wird es sehr spät. Hans fürchtet seinen Vater, der ihn zu Hause sicherlich verprügeln werde.
Am nächsten Morgen findet ihn sein Vater tot im Fluß schwimmend. Zum Begräbnis kommen eine große Zahl von Mitgeher und Neugierigen. Hans Giebenrath ist eine Berühmtheit geworden für die sich jeder interessiert. Und nun nehmen die Lehrer, der Rektor, und der Stadtpfarrer an seinem Schicksal teil.
Leseprobe: S. 201
Beim Vater und der alten Anna, die ununterbrochen heulte, blieb der Meister Flaig am Grabe zurück.
"Ja, so was ist herb, Herr Giebenrath."
"Er ist so begabt gewesen, und alles ist ja auch gut gegangen, Schule, Examen - und dann auf einmal ein Unglück übers andere."
Der Schuhmacher deutete den durchs Kirchhoftor abziehenden Gehröcken nach. "Dort laufen ein paar Herren", sagte er leise, "die haben auch mitgeholfen ihn, kaputt zu machen.
"Was?" fuhr der andere auf und starrte den Schuster zweifelnd und erschrocken an. "Ja, sackerlot, wieso denn?"
"Seien Sie ruhig, Herr Nachbar. Ich hab´ bloß die Schulmeister gemeint."
"Wieso? Wie denn?"
"Ach, nichts weiter. Und Sie und ich, wir haben vielleicht auch allerlei an dem Buben versäumt, meinen Sie nicht?"
Über dem Städtchen war ein fröhlich blauer Himmel ausgespannt, im Tale glitzerte der Fluß, die Tannenberge blauten weich und sehnlich in die Weite. Der Schuhmacher lächelte fein und traurig und nahm des Mannes Arm, der aus der Stille und seltsam schmerzlichen Gedankenfülle dieser Stunde zögernd und verlegen den Niederungen seines gewohnten Daseins entgegenschritt.
Zum Buch:
Es ist 1903 entstanden und zeigt das Schicksal eines begabten Schülers, den der Ehrgeiz des Vaters und die provinzielle Enge seiner Heimatstadt in eine Rolle drängen, die ihm nicht entspricht und ihn "unters Rad" drängt. Das Buch enthält eine Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer, wie man einen gesunden, begabten, jungen Menschen am zweckmäßigsten zugrunde richtet. Neben Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" war "Unterm Rad" die nachhaltigste Anklage gegen das Erziehungsritual jener Jahre. Diese frühe, stark autobiographische Erzählung ist eines der engagiertesten, auf unmittelbare Wirkung bedachten Bücher Hermann Hesses.
|