Textgrundlage:
Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Erzählung, DTV, München; 1995, darin auch: Nachwort des Autors: "Zehn Jahre später"
II. Erläutere die Rolle des Erzählers in Bölls Text! Beachte dabei unbedingt die "Quellenangaben" in Kapitel 1 (Seite 7) und die Tatsache, dass Böll den Text in seinem Nachwort als Pamphlet (Seite 140) bezeichnet.
Der Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann" bezieht sich auf die scheinbar reale, also fiktiv-reale, Geschichte einer jungen Haushälterin, Katharina Blum, welche auf Grund des von der sog. Zeitung auf sie ausgeübten Terrors - es handelt sich hierbei wohlgemerkt um Medienterror - von einer friedliebenden Person zur Schwerverbrecherin mutiert.
Die gesamte Erzählung basiert also auf purer Fiktion, was Heinrich Böll als einen subjektiven, empirisch-realen Autor darstellt und voraussetzt. Der Autor selbst jedoch gibt sich im Roman nicht zu erkennen, was allein schon an der Tatsache feststellbar ist, dass die Identifizierung des Autors ohne das Deckblatt und das zehn Jahre nach dem Roman entstandene Nachwort nahezu - wenn nicht vollkommen - unmöglich wäre.
Der Erzähler des Romans ist also ein von Böll erdachter Modellautor, welcher wiederum eine ebenso fiktiv-reale, anonyme Person den Roman erzählen lässt. Erzähler und Modellautor sind also beide fiktiv-real und agieren im Rahmen einer real von Böll geschriebenen und intendierten Kampfschrift (von dem Autor selbst im Nachwort "Pamphlet" genannt). Die Tatsache, dass der Roman eine weitere Bedeutung hat, also auf die Intention des Autors schließen lässt, betont abermals die Subjektivität des vorliegenden Buches. Nichtsdestotrotz, behauptet der fiktiv-reale Erzähler, objektiv zu sein, wobei suggeriert wird, dass der reale Autor selbst ebenso objektiv ist. Die Tatsache jedoch, dass selbst der fiktiv-reale Erzähler behauptet, im Rahmen der Sicherung eines besseren "Fließen[s]" des Romans diverse "Quellen" zu verbinden (siehe Seiten 7 und 8), drängt quasi die Erkenntnis auf, dass selbst der fiktiv-reale Erzähler äußerst subjektiv ist. Trotzdem gibt sich der fiktiv-reale Erzähler (ich werde mir erlauben, ihn von nun an nur noch "Erzähler" zu nennen) als objektiver Protokollant realer Ereignisse zu erkennen, was insofern zur spannenden Gestaltung des Romans beiträgt, als er als solcher nicht allwissend ist und somit gewisse Informationen auslassen kann, ohne den Anschein des gezielten Vorenthaltens zu erwecken. Durch ebendiese vorgetäuschte Objektivität ist es dem Erzähler, dem fiktiv-realen Modellautor und - natürlich real in erster Linie - dem Autor möglich die Erzählung zeitlich zu verschieben. So wird mit dem Ende des Geschehens begonnen, wobei dem Leser jeglicher Hintergrund, der zum vollständigen Verständnis ebenso nötig wie unentbehrlich ist, vorenthalte wird. Auf eine protokollartige Darstellung des letzten Tages der Erzählung - es ist hier angebracht zu sagen, dass sich die gesamten Geschehnisse im Roman in fünf aufeinander folgenden Tagen vollziehen - folgen genauere im wesentlichen "Blum-fixierte" Beschreibungen der übrigen Tage. Dieser eigenwillige Umgang mit den fiktiv-realen Informationen ist die einzig realisierbare Möglichkeit, dem angeblichen "Protokoll" diese Dimensionen zu geben (137 Seiten).
Die inhaltliche Lücke, welche das Privatleben bzw. die Intimsphäre der Hauptfigur quasi zu "verschlucken" scheint, betont abermals die bereits sieb-ähnlich löchrige und weitgehend fragliche Objektivität der Darstellung.
Abgesehen von bestimmten stilistischen Details, die die humanistische und übrige Bildung des Autors offenbaren, ist der Handlungskern vergleichbar mit dem eines Groschenromans. Die besondere Signifikanz jedoch des gesamten Buches (zumindest meines Erachtens) ist die zweite Dimension, also die der Kampf- bzw. Streitschrift. Ab hier kann nur noch der reale Autor, also Heinrich Böll, genant bzw. zur Rechenschaft gezogen werden. Seine Intention, dem Buch den Charakter eines Pamphlets zu verleihen, ist für einen geübten Leser (z.B. einem "Meta-Leser", oder einem "Ideal-Leser", wie es Umberto Eco ausdrücken würde) offensichtlich und für einen ungeübten im Nachwort nachzulesen, daher also ebenso gegeben, wie die Tatsache, dass Böll der reale Autor ist.
Böll wendet sich mit diesem Roman gezielt gegen die Bildzeitung, nennt sie in der Erzählung aber "ZEITUNG", um nicht belangt werden zu können. Die "Zeitungs"- Artikel jedoch ähneln ironischer Weise gar nicht den wahren "Bild"- Artikeln, was einen weiteren Aspekt der im Buch enthaltenen Polemik offenbart. Der Autor will mit diesem Roman zum Ausdruck bringen, dass die Bildzeitung und ihre Journalisten skrupellos sind und selbst dann nicht zurückschrecken, wenn sie mit ihrer penetranten und eventuell illegalen Arbeitsweise menschliche Leben zerstören oder zumindest aus dem Gleichgewicht bringen.
An diesem Punkt angelangt, muss man kurz die Charakteristika der Katharina Blum darstellen, welche ihr zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg bzw. Aufschwung verhalfen und ihr letztlich zum Verhängnis wurden. So verkörpert Katharina Blum quasi das deutsche Wirtschaftswunder, ist somit also fleißig, gewissenhaft, tüchtig, stolz, unpolitisch, weitgehend kooperativ etc. Ohne in ihrem Leben jemals etwas ungerechtes getan zu haben - abgesehen einmal von der Hilfe zur Flucht ihres geliebten Götten - wird sie von der Bildzeitung als "Terroristenflittchen" dargestellt und kontinuierlich mit falschen Anschuldigungen und Bezeichnungen beschossen. Es steht also somit fest, dass die Vorgehensweise der Zeitung zumindest moralisch verwerflich ist, was wiederum auf die Bildzeitung bezogen selbiges suggeriert. Es steht somit auch fest, dass es sich um eine Streitschrift handelt - der Autor selbst schreibt es außerdem in deinem Nachwort. Die Meinung mancher, der Roman sei als Terroristenroman einzuordnen, ist mit einem Schmunzeln von der Hand zu weisen und zeugt von gigantischer Inkompetenz (wenn nicht Impotenz) im Umgang mit Büchern und jeglicher Art von schriftlich niedergelegten Dokumenten. Im Roman existieren nämlich gar keine Terroristen! - So einfach ist das! - Ob es sich aber um einen Terror-Roman handelt, kann man diskutieren. Wahrscheinlich würde man zum Ergebnis kommen, dass letzteres stimmt, da von Seiten der "ZEITUNG" kontinuierlich Terror auf Katharina Blum ausgeübt wird. Ergo handelt es sich inhaltlich um einen Terror-Roman, der als Deckmantel einer Streitschrift funktioniert und konzipiert ist.
Noch einmal auf die ursprüngliche Fragestellung zurückkommend und damit abschließend muss gesagt werden, dass die Rolle des fiktiv-realen Erzählers (es kann hoffentlich davon ausgegangen werden, dass zumindest jedem Leser DIESES Textes der Fiktionsvertrag geläufig ist) darin besteht, den Leser von der Objektivität der Wiedergabe der fiktiv-realen Fakten zu überzeugen und sich nicht als allwissend-subjektiver, sondern als objektiver und/oder Protokollant zu präsentieren.
Meines Erachtens ist der vorliegende Roman ein gelungener Versuch des Ausdrucks intensiver Kritik an der Bildzeitung und ihrem Medien-Regime. Der Autor bewegt sich - ebenso wie die Bildzeitung - hart an der Grenze des strafbaren, kann jedoch nicht belangt werden. Diese ironische Imitation der Vorgehensweise der kritisierten Zeitung betont die Kritik Bölls und verleiht dem ansonsten mittelmäßigen Buch eine meisterhafte Note. Der Autor avanciert zum Sympathisanten - er ist bekannt für seine gemäßigt "linke" Einstellung - und bestraft die Bildzeitung verbal für ihr unmoralisches und menschenfeindliches Vorgehen.
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