Eine der Hauptpersonen des Romans \"Der Vorleser\" von Bernhard Schlink ist
Hanna Schmitz, eine Figur, über deren Charakter, deren Vorstellungen, Ziele
und Wünsche der Autor seine Leser bis zum Schluß des Buches nicht
vollständig aufklärt. Der Leser wird somit dazu veranlaßt, sich seine
\"eigene Hanna\" anhand ihrer Taten, oder in diesem Fall sogar oft anhand
ihrer \"Nicht-Taten\", zusammenzustellen. Bei dieser persönlichen Formung
Hannas Charakters projiziert der Leser sicherlich auch eigene Gefühle,
Gedanken und Moralvorstellungen auf diese Romanfigur.
Somit hat im Endeffekt jeder Leser ein eigenes Bild \"seiner Hanna\", ihres
Charakters und vor allem aber ihrer Handlungs-/bzw. Nicht-Handlungsmotive.
Diese Hannas werden sich zwar sehr ähnlich sein und in vielen Dingen
vollkommen übereinstimmen, ich bin mir jedoch sicher, daß sie sich in
einigen ausschlaggebenden Wesenszügen unterscheiden werden.
Ich werde nun versuchen, eine Personenbeschreibung \"meiner Hanna\" zu verfassen:
Hanna Schmitz wurde am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren. Über ihre
Kindheit und Jugend wird der Leser weitestgehend im Unklaren gelassen. Sie
wuchs in Siebenbürgen auf, bis sie 1939 nach Berlin umzog. Verbrachte sie
in Siebenbürgen eine glückliche Kindheit? Wer waren ihre Eltern? In was für
einem Milieu wuchs sie auf? All das wissen wir nicht. Nur eines ist klar:
Hanna Schmitz ging nicht wie die anderen Kinder ihres Alters in die Schule.
Vielleicht wurde sie von ihren Eltern in gewissen Dingen unterrichtet - sie
war sicherlich kein dummes Kind, da sie zu einer intelligenten Frau
heranreifte - lesen und schreiben lernte sie jedoch nicht.
Dieses Manko begleitete sie fast ihr ganzes Leben lang. Sie ließ sich voll
und ganz von ihm beherrschen, ihre größte Angst wurde es, sich eines Tages
zu ihrem Analphabetismus bekennen zu müssen.
Während der Zeit, die sie in Berlin verbrachte, hatte sie eine Stellung bei
Siemens. Im Herbst 1943 sollte sie befördert werden. Da die neue Stelle
jedoch Lese- und Rechtschreibkenntnisse erfordert hätte, entschied sie sich
gegen diese und für die Arbeit als Aufseherin in Auschwitz. Das war
möglich, da sie mit ihren 21 Jahren ein Mitglied der SS war. Nach ihrem
Dienst in Auschwitz wurde sie in einem kleinen Lager bei Krakau eingesetzt.
Auch über diese Zeit kann man nur spekulieren. Wählte sie die Arbeit als
Aufseherin, oder floh sie nur vor der Beförderung und der damit verbundenen
Scham der Entblößung ihrer Schwäche? Ich bin mir sicher, daß sie den Dienst
nicht bewußt wählte, sondern keinen anderen Ausweg mehr sah. Sie wählte die
Stelle nicht, sie nahm sie, wie so vieles, in Kauf. Der Preis für ihre
Scham, aber auch für den Stolz, den sie in den Jahren entwickelt hatte, war
hoch: keine Beförderung, sondern eine Stelle als
Konzentrationslageraufseherin für die Sicherheit vor der Enthüllung ihres
Mankos.
Hatte sie Gewissensbisse? Fühlte sie sich schuldig? Machte sie sich
Selbstvorwürfe? Das alles können wir nicht mit Gewißheit beantworten. Fakt
ist, daß sie während dieser Zeit immer wieder junge, schwache und zarte
Mädchen zu sich holte, die sie unter ihren Schutz brachte und dafür sorgte,
daß sie besser verköstigt wurden, nicht arbeiten mußten und nachts zu ihr
kamen. Hanna verbot ihnen strikt, auch nur ein Wort über das nächtliche
Geschehen in ihrem Zimmer zu verlieren. Nach einer gewissen Zeit kamen auch
diese Mädchen in einen Transport, der sie in das Vernichtungslager brachte.
Diese jungen Mädchen wurden von Hanna als Vorleserinnen benutzt. Sie hatte
immer noch nicht lesen oder schreiben gelernt, da sie aber, wie schon
gesagt, nicht dumm war, sehnte sie sich nach Bildung, nach Literatur. Die
Lagerinsassinnen konnten ihr diesen Wunsch für bestimmte Zeit erfüllen.
Besseres Essen, keine Arbeit mehr und wenigstens über einen gewissen
Zeitraum hinweg die Sicherung ihrer Existenz, ihres nackten Überlebens,
gegen ein bißchen Vorlesen und Verschwiegenheit. Ich denke, aus Hannas
Perspektive war das ein fairer Tausch. Meiner Meinung nach wechselte sie
ihre Vorleserinnen nicht aus, weil sie sie satt hatte, sondern da es aus
ihrer Sicht eine Notwendigkeit war. Über kurz oder lang würde eine von
ihnen ihren Mund nicht halten können, und was dann...? Das jahrelange
Versteckspiel, das Leben mit der permanent vorhandenen Angst vor Enthüllung
hatte diese ins schier Unermeßliche gesteigert. Für Hanna war es gar nicht
mehr denkbar, ihre Unwissenheit zuzugeben. Sie hatte also gar keine andere
Wahl. Und machte sie nicht ein paar Mädchen mehr die letzte Zeit ihres
Lebens ein bißchen erträglicher? Sicher wußte Hanna von den Gerüchten, die
im Lager kursierten: \"Die Frau Schmitz, die hat da so ihre ganz speziellen
Lieblinge. In der Nacht, da holt sie sie sich auf ihr Zimmer. Was da dann
passiert, ist ja wohl glasklar! Die scheut nicht einmal vor den jungen
Mädchen hier zurück. Aber wenn sie dann genug von denen hat, ja, dann
schickt sie sie auf den Transport. Jaja, so eine ist die Frau Schmitz
nämlich.\" Gerede dieser Art traf Hanna sicherlich hart. Sie wurde in der
Welt des Verbrechens, in die sie wegen ihres Analphabetismus hineingeraten
war, dank ihres Analphabetismus eines weiteren \"Verbrechens\" angeklagt, daß
sie nicht, oder zumindest nicht in dieser Form, begangen hatte. Das lehrte
sie, ihre Gefühle größtenteils zu verbergen und äußerlich wie innerlich zu
verhärten.
Als im Winter 1944/45 das Naziregime seinem Ende zuging, brach Hanna in
Begleitung vier weiterer Aufseherinnen plus Wachmannschaften mit den
Gefangenen nach Westen auf. Eines Nachts in der \"Bombennacht, in der alles
zu Ende ging\", sperrten die Wachmannschaften und Aufseherinnen die mehreren
hundert Lagerinsassinnen in eine Kirche, eines zum größten Teil leer
stehenden Dorfes, ein. Als eine Bombe in den Kirchturm einschlug und allen
Anwesenden klar war, daß die eingeschlossenen Frauen verbrennen würden,
öffneten weder Hanna noch die übrigen die Tür.
Ich bin überzeugt, daß Hanna die Tür keinesfalls aus Bosheit verschlossen
ließ, ich glaube ihren Worten, die sie äußerte, als sie lange Zeit später
dazu veranlaßt wurde, zu den Ereignissen Stellung zu beziehen: einerseits
befand sie sich in einem Zustand äußerster Verwirrung; das Chaos, das
ausgebrochen war, nachdem die Bombe gefallen war und die Kirche brannte,
versetzte sie in Angst und Schrecken; andererseits war ihr klar, daß sie
die Frauen, vorausgesetzt die Aufseherinnen ließen sie frei, nicht mehr
unter Kontrolle bekommen würden. Sie selbst war für die Gefangenen
mitverantwortlich, ihre Aufgabe war es, die Häftlinge zu bewachen, sie an
der Flucht zu hindern. Dies war nun nicht mehr möglich. Die Ordnung war
nicht mehr herstellbar. Die Frauen waren von dem langen, anstrengenden
Marsch unter den unerträglichsten Umständen sowieso schon am Ende ihrer
Kräfte angelangt, sie hatten Hunger, froren und... War es da wirklich
vernünftig oder human, sie zu retten? Ich gehe davon aus, daß Hanna keine
Zeit für sehr viel mehr Gedanken hatte, da sich das Geschehen im Laufe von
Minuten abspielte.
Nach dem Ende des Todesmarsches, dem Ende des 3. Reiches, dem Ende Hitlers
und seinem 2. Weltkrieg und somit auch dem Ende Hannas Zeit als Aufseherin,
zog sie nach Heidelberg und lebte dort acht Jahre lang. Das ist die längste
Zeit, die an ein und dem selben Ort verbrachte. Der häufige Wohnungswechsel
sagt viel über Hanna aus: Hanna war ständig auf der Flucht, auf der Flucht
vor ihrer Vergangenheit, auf der Flucht vor ihrem Analphabetismus und auf
der Flucht vor sich selbst. Die Tatsache, daß sie sich jedes Mal
polizeilich an- und abmeldete, zeigt ihren starken Ordnungssinn auf, den
wir schon in der \"Bombennacht\" kennengelernt haben. Alles mußte stets seine
Ordnung haben, denn Ordnung ist das halbe Leben. Ohne ihre Ordnungsliebe
wäre sie sicherlich nicht in der Lage gewesen, ihren Analphabetismus so
lange zu verstecken.
1958 lernte die damals 36jährige, in Heidelberg lebende, Hanna den
l5jährigen Michael Berg kennen. Sie kam dazu, als der Junge sich erbrechen
mußte, und half ihm, die Sauerei zu beseitigen. Als Michael später mit
einem Blumenstrauß vor ihrer Tür stand, um sich bei ihr für die Hilfe zu
bedanken, war für Hanna völlig klar, daß der Junge nur das Eine von ihr
wollte: mit ihr schlafen. Auch diese Haltung ist auf den Analphabetismus
zurückzuführen: Hanna kam sich dumm und intellektuell unbrauchbar vor. Ich
vermute, daß sie noch keine sie erfüllende Beziehung geführt hatte, aus
Angst, sich als Analphabetin erkennen geben zu müssen. Wahrscheinlich
suchte sie sich, wenn überhaupt, Männer mit geringer Bildung aus, die sich
nicht für viel Dinge außer Geld verdienen, essen, trinken und Sex
interessierten. So war das Einzige, wozu sie sich fähig fühlte, körperliche
Befriedigung zu schenken. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mensch
sich für die Person Hanna interessieren könnte, für ihre Gedanken und
Gefühle, nicht für ihre Bildung, die sie ja größtenteils nicht erlangen
konnte. Wie auch? Bildung erhält man aus Büchern oder aus der Schule. Was
hätte sie also tun sollen? Zwischen Michael und Hanna entwickelte sich eine
Beziehung, die deren beider Leben grundlegend veränderte, obwohl sie nur
ein halbes Jahr dauerte. Hanna bestimmte die Regeln dieser Beziehung. Sie
versuchte, sie auf folgendes Ritual zu beschränken: vorlesen, duschen, lieben.
Ja, Hanna hatte Michael schon nach kurzer Zeit dazu gebracht, ihr
vorzulesen. Kein Vorlesen, keine Liebe, so hieß ihre Devise. An diesem
Ritual wird vielerlei deutlich: die Ordnung: Schon wieder besteht Hanna
darauf, daß alles seinen festen Ablauf hat, daß die Regeln eingehalten werden.
Das Duschen: Hanna besteht darauf, jedesmal nach dem Vorlesen, das heißt
vor dem Sex, zu duschen. Sie hat geradezu einen Reinlichkeitstick. Ich
denke, daß sie sich schuldig fühlte. Einerseits erinnerte sie das Vorlesen
Michaels an die Zeit, die sie in Auschwitz und bei Krakau mit ihren jungen
Vorleserinnen verbrachte, andererseits wußte sie, daß Michael sich
hoffnungslos in sie verliebt hatte, sie ihm diese Liebe jedoch schuldig
bleiben mußte. Sie hatte auch Gewissensbisse, da ihr klar war, daß eine
glückliche, harmonische Beziehung vor allen anderen Dingen auf einem
aufbaut: Auf Vertrauen und Ehrlichkeit. Und was tat sie? Sie belog \"ihren
Jungen\" und brachte ihn sozusagen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen
dazu, ihr einen ihrer größten Wünsche zu erfüllen. Ihr war sicher klar, daß
sie Michael nicht angemessen behandelte, versuchte aber auch das, wie sehr
vieles in ihrem Leben, zu verdrängen. Sie dominierte die Beziehung, so wie
der Analphabetismus ihr Leben voll und ganz beherrschte, so versuchte sie
nun Michael zu beherrschen. Sie erlaubte es sich nicht, sich vor ihm auch
nur den kleinsten Fehler einzugestehen, sie hatte immer Recht, Michael
mußte sich immer entschuldigen, tat er es nicht, so reagierte sie mit
Liebesentzug.
Michael, der 21 Jahre jünger war als sie, war ihr in der Sache, die ihr
ganzes Leben beeinflußte, überlegen: er war in der Lage, sowohl zu lesen,
wie auch zu schreiben. Sie wußte, daß sein Leben durch sie bestimmt wurde,
also wollte sie dies voll und ganz auskosten. Endlich war sie die Starke,
die beherrschte und, ja, die auch demütigte. In Michael hatte sie den
perfekten Partner für dieses Wechselspiel der Macht - unbewußte Macht von
seiner Seite, nur allzu bewußte von ihrer Seite aus - gefunden. Er hatte
sich wirklich ohne wenn und aber in sie verliebt, und tat, was immer sie
von ihm verlangte. Am Anfang der Beziehung bemühte sie sich die Distanz zu
wahren, um sich das \"Geschäft\" zu erleichtern. So fragte sie ihn zum
Beispiel nicht nach seinem Namen, er war derjenige, der am 6. oder 7. Tag
davon anfing. Indem sie keine gefühlsmäßige Bindung aufbaute, wollte sie
ihr Gewissen ausschalten und das Ganze als puren Handel sehen. Im Laufe der
Zeit klappte das jedoch nicht mehr. Michael gab sich nicht mehr
mit ihren Ritualen, die auch zur Distanzierung dienten, zufrieden. Er
wollte mehr. So besuchte er sie zum Beispiel eines Tages in der
Straßenbahn, in der sie als Schaffnerin arbeitete. Er setzte sich in ein
hinteres Abteil, sie kam nicht zu ihm. Über dies Angelegenheit hatten sie
später einen Streit. Jeder warf dem anderen vor, ihn bzw. sie in der
Öffentlichkeit zu ignorieren. Ich denke, Hanna warf es einfach vollkommen
aus der Bahn, ihren Jungen an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit
als geplant zu sehen. Das war gegen die Regeln. Das war nicht eingeplant.
In ihrer kühlen Rechnung war dafür kein Platz. Wie sollte sie die Sache nun
weiterhin als Handel abtun? Hanna war aufs Äußerste verwirrt. Das konnte
sie Michael gegenüber allerdings auf keinen Fall eingestehen, da sie doch
die Rolle der Starken, der Unfehlbaren übernommen hatte. Deshalb reagierte
sie mit Vorwürfen und bitterer Ironie.
Im Laufe der Zeit konnte sie sich nicht mehr vormachen, daß nur sie
diejenige war, die beherrschte. Sie konnte nicht länger die Augen vor ihrer
immer größer werdenden Abhängigkeit von ihrem Vorleser verschließen.
Während dem ganzen halben Jahr brachte sie es nicht über sich, Michael die
Wahrheit zu gestehen. Das führte zu einem Zwischenfall, anhand dessen
Michael ein Stückchen der \"wahren Hanna\", die nicht immer schauspielern
mußte, die nicht immer stark und dominant sein mußte, kennenlernte.
Michael plante in seinen Schulferien eine Radtour für Hanna und sich.
Allein, daß Hanna in dieses Vorhaben einwilligte, zeigte schon, daß ihr
Verhältnis zu Michael ein anderes geworden war. Sie hatte den Menschen an
sich herangelassen, betrachtete ihn nicht mehr nur als \"Vorlesemaschine\".
Sie ließ es zu, daß er sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausriß, überließ
ihm die ganze Verantwortung, und somit auch die ganze Macht. Sie streifte
einen Teil ihrer Maske ab, fing an wieder Gefühle zu empfinden und sich
auch einzugestehen. Erst in diesem Stadium würde ich von einer eigentlichen
Beziehung sprechen. Hanna hatte sich gewandelt. Ich würde sagen, sie hatte
sich zurückverwandelt. Vor langer, langer Zeit, noch vor ihrer Zeit im KZ,
lernte sie, ihre Gefühle zu verstecken, sich selbst gemeinsam mit ihrem
Analphabetismus zu verstecken. Die Erfahrungen im KZ beschleunigten diesen
Prozeß, sie versteckte ihre Gefühle, ihre Schuldgefühle nun nicht nur mehr
vor der Außenwelt, sondern auch vor sich selbst.
Nun hatte sie einen Menschen gefunden, dem sie nicht nur (soweit es für sie
möglich war) vertrauen konnte, sondern dem sie auch die Verantwortung
überlassen konnte, der für sie die Regeln und eine Ordnung aufstellte und
bei dem sie sich ein Stück weit fallenlassen konnte.
Um so schlimmer traf sie dann der \"Verrat\": Michael ging eines Tages
Brötchen holen. Da sie noch nicht wach war, legte er ihr einen Zettel hin.
Hanna wachte auf und Michael war weg. Als sie dann den Zettel sah, muß das
ganze Unglück auf einmal über sie hereingebrochen sein. Und sie wußte, daß
sie daran mitschuldig war. Hätte sie ihm gesagt, daß sie, und warum sie mit
einem Zettel nichts anfangen konnte, so wäre das ganze nicht passiert. Weil
sie das unterlassen hatte, wurden ihr auf einmal folgende Dinge klar:
1.: Michael war weg und das traf sie hart. Sie merkte, wie stark sie von
ihm abhängig war, wie sehr sie ihn und sein Vorlesen brauchte. Ihr wurde
klar, daß er sie in der Hand hatte, sie realisierte auch, daß er von dieser
Macht, die er über sie hatte, nichts wußte und sie somit von ihm nicht
verlangen konnte, verantwortungsvoll damit umzugehen und auf sie Rücksicht
zu nehmen.
2.: Die Ordnung war gestört. Dies hört sich zwar sehr banal an, bedeutete
Hanna aber mehr, als wir uns vorstellen können. Ihr wurde bewußt, daß sie
sich so sehr auf Michael verlassen hatte, daß er die Regeln bestimmt und
die Ordnung in der Hand hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie aus
ihrer Rolle geschlüpft, die sie mit Selbstachtung, aber auch damit
verbundener Härte und Stärke gleichsetzte. Sie hatte sich treiben lassen
und sich somit das Leben um einiges erleichtert. Und nun das! Sie war
enttäuscht worden. Mußte sie daraus schließen, daß man sich eben doch nur
auf sich selbst verlassen kann, daß man sich und andere kontrollieren muß?
Daß man hart und kalt bleiben muß, wenn man nicht verletzt werden will?
3.: Der Zettel. Michael hatte ihr einen Zettel hinterlassen, von dem ihr
weiteres Leben hätte abhängen können, und sie war nicht in der Lage, in zu
entziffern. Dieses Stückchen Papier hätte alles mögliche enthalten können:
\"Hanna, ich bin gegangen und komme nie mehr wieder. Suche nicht nach mir.
Dein Michael\", oder \"Liebe Hanna, ich muß mir jetzt über den weiteren
Verlauf meines Lebens klar werden. Ich brauche Abstand und will dich die
nächsten Wochen nicht sehen. Dein Michael\" oder aber auch \"Sehr geehrte
Frau Schmitz! Michael Berg hatte einen Unfall und liegt jetzt im
Krankenhaus. Hochachtungsvoll, der Inhaber.\" So viele Möglichkeiten, und
sie war hilflos wie ein Baby. Hanna taumelte zwischen Selbsthaß, Angst,
Scham und Verzweiflung hin und her.
Kein Wunder also, daß sie außer sich war, als Michael fröhlich und
unbeschwert, als wäre nichts passiert (was für ihn ja zu traf),
hereinspaziert kam. Sie verlor die Nerven und schlug mit ihrem Gürtel zu.
Das war für ihn wie für sie die schlimmstmögliche Reaktion. Er wurde von
der Frau, die er liebte, gedemütigt; in ihr beschwor der Anblick des
blutenden Jungens Erinnerungen an Auschwitz und Krakau herauf. Doch nicht
nur das: sie hatte die Kontrolle über sich verloren, sie spürte, daß sein
Schmerz auch sie schmerzte, daß sie mit ihm fühlte, daß ihre mühsam
aufgebaute Maske am Zerbrechen war. Und das war für Hanna erst einmal eine
existenzbedrohende Vorstellung. Das Verlieren der Kontrolle hieß
gleichzeitig, daß die Chancen der Entdeckung größer wurden. Die Chancen der
Entdeckung ihres Analphabetismus und die Chancen der Entdeckung ihrer
Vergangenheit. Von beidem erfuhr Michael Berg nicht von Hanna selbst. Aus
diesem Zwischenfall lernte Hanna ein bißchen offener zu sein. Sie ließ von
da an Michael gegenüber ein kleines Stückchen ihrer Maske fallen. In seiner
Gegenwart erlaubte sie sich wieder Gefühle wie Freude und Glück zu
empfinden und auch zu zeigen. Sie hörte auf; ihn \"Jungchen\" zu nennen, sie
gab ihm Kosenamen. Hanna ließ sich auf die Beziehung ein, sah Michael als
einen Menschen, den sie liebte. Ja, sie liebte ihn. Wenn auch anders, als
er sie; aber inzwischen gestattete sie sich, Liebe zu empfinden. Durch
ihren Ausbruch hatte sie erfahren, daß es erleichtert, Gefühle zu zeigen.
Ihr Weinen nach dem Schlag half ihr über die schlimme Situation hinweg.
Nachdem Hanna zuerst ihre Maske aufgesetzt hatte, um Michael zu bestrafen,
um die Situation in den Griff zu bekommen, und dieser Versuch kläglich
scheiterte erlebte sie, wie gut es ihr tat, sich danach in ein Paar Arme
fallen zu lassen und zu weinen. Ganz sie selbst zu sein.
Sie öffnete sich Michael immer noch nicht weit, aber für sie war dieser
Schritt ein enormer Fortschritt. Sie ließ ihn immer noch nicht an ihrem
Alltagsleben, an ihrer Vergangenheit oder an ihren Plänen für die Zukunft
teilhaben, aber wenn sie beisammen waren, so war Hanna bei ihm. Was am
Anfang ihrer Beziehung nicht der Fall war. Am Anfang war ihr das Vorlesen
wichtiger, nun zählte Michael und die Welt die er ihr schuf.
Eine Welt, in der sie auf ein paar Dinge weniger achtgeben mußte, eine
Welt, in der sie nicht ständig auf der Hut sein mußte. Nachdem sie sich in
dieser Welt zu Hause fühlte, wollte sie einen großen Schritt wagen: sie
wollte Michael in seiner Umgebung erleben und kennenlernen, ich denke, sie
begann auszuprobieren, ihn wirklich zu lieben. Sie kämpfte lange Zeit mit
sich, ob sie es zulassen konnte, diese Barriere zu zerstören. Michael fiel
auf, daß sie \"tagelang in
sonderbarer Stimmung gewesen\" war, \"launisch und herrisch zugleich, spürbar
unter einem Druck, der sie aufs Äußerste quälte und empfindlich,
verletzlich machte\". Er spürte ihre Hilflosigkeit, wußte jedoch nicht,
worauf er sie zurückführen sollte. Nach dieser Zeit der Unschlüssigkeit und
Zweifel entschied sich Hanna zu dem entscheidenden Schritt. Sie ging in das
Schwimmbad, von dem sie wußte, daß Michael sich dort aufhielt. Als sie den
Jungen dort mit seinen Freunden beobachtete, merkte, wie unbeschwert und
fröhlich er in seiner Umgebung war, überfielen sie Zweifel. War es richtig,
Michael mit ihrer Person zu belasten? War es richtig, ihm ihre
Schwierigkeiten aufzudrängen? Hatte sie ihn nicht schon genug ausgenutzt?
Hatte sie je an den Jungen gedacht?
Hanna beschloß dieser Beziehung ein Ende zu setzen. Michael Berg bedeutete
ihr eine ganze Menge, und sie war der festen Überzeugung, daß es für ihn
besser wäre, sie nie wieder zu sehen.
Ich denke, daß das der größte Liebesbeweis ist, den Hanna zu erbringen
fähig war. Daß es für eine schmerzverhindernde Trennung für Michael schon
viel zu spät war, realisierte sie nicht. Sie sah ihn sich ein vorerst
letztes Mal lange und eindringlich an und verließ dann ihre gemeinsame Welt.
Nach dieser mißglückten Beziehung verließ Hanna Schmitz Heidelberg. Wo und
wie sie die nächsten Jahre verbrachte, wird für immer ein Geheimnis
bleiben. Über diese 16 Jahre verliert Bernhard Schlink nicht ein einziges
Wort. Die Handlung des Romans setzt erst l965 wieder ein.
Hanna wurde zusammen mit den vier weiteren KZ-Aufseherinnen für ihre
Verbrechen in Krakau und den Todesmarsch verurteilt. Ein Hauptanklagepunkt
war ein Protokoll, das sie über die Geschehnisse der ,,Bombennacht\"
geschrieben haben sollte. Als der Richter ein Schriftprobe von ihr
verlangte, um sie mit dem Protokoll zu vergleichen, gab Hanna alles zu und
ließ sich zu lebenslänglicher Haft verurteilen. Aus Angst vor der
Bloßstellung als Analphabetin, nahm sie die Bloßstellung als Verbrecherin
in Kauf Aus Angst vor der ihr unangenehmen Wahrheit, wählte sie die viel
schlimmere Unwahrheit. Warum sie so handelte? Zum einen denke ich, daß sie
sich so an das Verstecken ihres Analphabetismus gewöhnt hatte, daß es für
sie schlichtweg undenkbar geworden war, diesen zuzugeben. Unter welchen
Umständen auch immer. Auf der anderen Seite fühlte sie sich schuldig, ich
denke das Gefängnis erschien ihr nicht bedrohlich. Sie fühlte sich schuldig
an ihrem Analphabetismus, schuldig an dem abrupten Ende ihrer Beziehung zu
Michael. Für ihre Zeit im KZ verbot sie sich, sich schuldig zu fühlen. Sie
war nicht der Meinung, daß sie eine andere Chance gehabt hätte, sie hatte
die Schuldgefühle für ihre taten im KZ erfolgreich verdrängt, die Gefühle,
die sie sich in der Zeit verboten hatte, kehrten noch nicht wieder. Wenn
sie sich während des wochenlangen Prozesses an ihre taten im KZ erinnerte,
so tat sie das auf einer rein rationalen Ebene. Warum sie die Juden in den
Tod schickte? ,,Die neuen kamen, und die alten mußten Platz machen für die
neuen\" So war es eben. Kein Platz für Gefühle.
Michael, der während des gesamten Gerichtsverfahrens anwesend war, wurde
von Hanna nur ein einziges Mal angesehen. Hätte sie ihn öfter angeschaut,
so wäre sie sicher nicht in der Lage gewesen, ihre Gedanken so zu zensieren
und alle Empfindungen zu streichen. Denn durch ihn hatte sie erfahren, wie
schön es ist, Gefühle zu zeigen und zu empfangen. Hanna stand in der Zeit
des Prozesses unter einem ungeheuren Druck und einer enormen Anspannung,
die an ihren Nerven zerrte. Sie war abgespannt und erschöpft. Dennoch hielt
sie durch, behielt ihre Maske auf und gab sich (ihrem Verständnis nach)
keine Blöße.
So lautete ihr Urteil ,,lebenslänglich\", und sie verbrachte die nächsten 18
Jahre im Gefängnis. Während dieser Zeit schickte ihr Michael immer wieder
Kassetten, auf
denen er ihr alle möglichen Bücher vorlas. Doch das war alles. Sonst hatte
sie keinen Kontakt zur Außenwelt und auch Michael ließ ihr niemals auch nur
ein einziges persönliches Wort zukommen. Das enttäuschte Hanna maßlos. Sie
hatte Michael, weil sie erkannt hatte, daß er für sie weit mehr als ein
Vorleser geworden war. Und nun reduzierte er sich selbst auf ihren
Vorleser. Wiederum beschuldigte sie sich selbst. Hätte sie schon als Kind
lesen gelernt, so wäre sie zu einer völlig anderen Hanna herangewachsen, zu
einer klugen, lustigen, gebildeten Hanna, einer Frau, die Michael
fasziniert und nicht mehr losgelassen hätte. So wie sie war, war sie ihm
nur besprochene Kassetten wert. Er wollte nicht mit ihr kommunizieren.
Verurteilte er sie? Haßte er sie? Was dachte er über sie? Diese Fragen
blieben für sie ungeklärt, da sie nicht mit ihm Kontakt aufnehmen konnte.
So faßte sie den Entschluß, lesen und schreiben zu lernen. Sie schaffte
ihren Analphabetismus anhand Michaels Kassetten aus der Welt. Michael hatte
ihr beigebracht, Gefühle zu zeigen, und brachte ihr bei, lesen zu lernen.
Sie besorgte sich die Bücher, die Michael ihr vertont hatte, in der
Gefängnisbücherei und verfolgte so Buchstabe für Buchstabe das Gesprochene.
Nachdem sie so lesen gelernt hatte, begann sie mit dem Schreiben. Als sie
auch das gelernt hatte, war Michael der Erste, dem sie ihre neue Kunst
präsentierte. Sie schrieb ihm einen Gruß: ,,Jungchen, die letzte Geschichte
war besonders schön\" Das war vier Jahre nachdem Michael ihr die erste
Kassette geschickt hatte.
Hanna hatte innerhalb von vier Jahren lesen und schreiben gelernt. Ihr
ganzes Leben hatte sie unter ihrem Analphabetismus gelitten, nun hatte sie
ihn besiegt. Hanna schrieb regelmäßig kurze Grüße an Michael, dieser
antwortete ihr immer noch nur mit Kassetten.
Im 18. Jahr Hannas Gefängnisaufenthaltes wurde ihr Gnadengesuch erhört. Die
Gefängnisleiterin schrieb an Michael und bat ihn, sich nach ihrer
Entlassung um sie zu kümmern. Er sollte sie vor ihrer Entlassung besuchen.
Eine Woche vor Hanna bevorstehender Freilassung fand der Besuch statt. Zum
ersten Mal seit 18 Jahren sah Hanna ihr Jungchen wieder. Zum ersten Mal
seit 34 Jahren konnte sie mit ihm sprechen, ihm von Angesicht zu Angesicht
gegenüberstehen. Sie hatte große Hoffnungen in diesen Besuch gesetzt. In
der Zeit ihrer Gefangenschaft hatte sie viel nachgedacht, und ihr war
bewußt geworden, wie viel Michael ihr bedeutete. Das einzige Photo, das
ihre Zelle schmückte, war das Michaels, sie hatte alle seine Kassetten
aufgehoben und gesammelt, alle ihre Hoffnungen und Wünsche hatte sie auf
ihn projiziert. Einerseits war ihre Zeit stehen geblieben, sie hatte keine
neue Menschen kennengelernt, sie war wieder an dem Punkt angelangt, an dem
sie sich ihre Gefühle für Michael eingestand, sie wollte ihm alles über
sich erzählen, ihm die ganze Kontrolle übergeben und sich fallen lassen.
Doch obwohl sich eine Sache ganz entscheidend verändert hatte, obwohl sie
nun keine Analphabetin mehr war, sich das Machtverhältnis somit verschoben
hatte und obwohl sie ihre Maske nun hätte fallen lassen können, scheiterte
auch dieser Versuch, eine wahre, ehrliche Beziehung mit Michael aufzubauen,
wie der damals im Schwimmbad, kläglich. Sie merkte, daß die 34 Jahre
zwischen ihr und Michael standen, daß er keinerlei Erwartungen und
Hoffnungen ihr gegenüber hatte, daß ihre Zeit vorbei und vergangen war.
Doch auch diesmal versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen.
Michael und sie verabredeten, daß er sie nach einer Woche, am Tag ihrer
Entlassung, abholen würde.
In der Nacht vor ihrer Entlassung brachte Hanna sich um. Sie hatte sich im
Morgengrauen erhängt.
Welche Motive sie zu dieser Tat führten, bleibt offen, ich denke, daß sich
das nicht an einem Punkt festmachen läßt. Erschöpfung, Trauer, Angst und
Hoffnungslosigkeit spielten sicher eine große Rolle. Auf der einen Seite
hatte sie alles erreicht, was zu
erreichen sie lange Zeit vergeblich zu erreichen versucht hatte,
andererseits hatte dieses Erreichen ihr nicht die Vorteile und Genugtuung
gebracht, die sie sich erhofft hatte. Sie hatte lesen und schreiben
gelernt, doch was war dabei herausgekommen? Der einzige Mensch, dem sie
schrieb, schrieb ihr nicht zurück. Die Erfüllung ihres Traums hatte ihr nur
Enttäuschung beschert.
Sie hatte auch gelernt, ihre verdrängten Gefühle wieder hervorzuholen, sie
sich einzugestehen und über sie nachzudenken. Doch auch das hatte ihr
nichts Positives eingebracht. Einerseits waren da ein Haufen Schuldgefühle,
mit denen sie nun umgehen mußte und zu denen sie vor sich selbst Stellung
beziehen mußte. So wurde sie sich zum ersten Mal ihrer Fehler, die sie als
Aufseherin begangen hatte, ihrer Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten
bewußt. Sie konnte sich ihrer Vergangenheit stellen, mußte dabei aber
erkennen, daß ihre Schuld nicht mehr gutzumachen war, wie sehr sie diese
auch einsah und bereute.
Weitere Gefühle waren ihre Gefühle Michael gegenüber, auf den sie nun alle
ihre Sehnsucht nach Liebe, Respekt, Vertrauen, Geborgenheit aber auch
schlicht und einfach Normalität, richtete.
Jetzt war ihr klargeworden, daß dieses Ziel ihrer Sehnsucht in diesem Sinne
für sie unerreichbar war.
Sicher hatte Hanna nach 34 Jahren, in denen sie von der Welt abgeschnitten
gewesen war, Angst, in diese zurückzukehren. Die Welt hatte sich verändert
und Hanna selbst hatte sich verändert. Wie sollte sie sich unter diesen
Umständen draußen zurechtfinden.
Wie Hanna gelebt hatte, so starb sie auch: auf der Flucht. Sie lebte auf
der Flucht vor ihrem Analphabetismus, ihren Gefühlen und ihrer
Vergangenheit; sie starb mit 6T Jahren auf der Flucht vor der Realität
Personenbeschreibung:
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