"Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht." (GWIII, 186)
Mit diesen Worten aus seiner "Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen" greift Celan ein Bild des russischen Dichters Ossip Mandelstamm auf, den Celan als Schicksalsverwandten ansah. In seiner poetologischen Schrift "Vom Gegenüber" schreibt Mandelstamm:
"Der Seemann wirft im kritischen Moment eine versiegelte Flasche ins Wasser des Ozeans, welche seinen Namen enthält und die Aufzeichnung seines Schicksals. Nach langen Jahren, auf einer Dünenwanderung, finde ich sie im Sand; ich lese den Brief und kenne jetzt den letzten Willen des Verlorenen und den Zeitpunkt des Geschehens. [...] Der Brief, den die Flasche in sich barg, war an den adressiert, der sie findet."
Nach Mandelstamms Lyrik-Verständnis ist das Gedicht an keine bestimmte Person gerichtet, hat aber dennoch einen Adressaten: den "Leser in der Zukunft" . Mandelstamm geht soweit, einen prinzipiellen Antagonismus zwischen dem Dichter und seinem konkreten Publikum zu konstatieren, eine Feindschaft zwischen Künstler und Gesellschaft. Der Dichter muß im Gedicht mit jemandem sprechen, den er weder kennt, noch kennenzulernen wünscht, um über die eigenen Worte ins Staunen zu geraten, um von ihrer Neuartigkeit verzaubert zu sein - wenn das Gegenüber bekannt wäre, wüßte der Dichter im voraus, wie es das Gesagte aufnehmen würde. Daraus folgt:
"[...] die Neigung zur Mitteilsamkeit ist umgekehrt proportional unserem faktischen Wissen vom Gegenüber und direkt proportional dem Bestreben, dieses Gegenüber an uns zu interessieren."
Celan hilft die Lektüre Mandelstamms, der ausdrücklich behauptet: "Es gibt keine Lyrik ohne Dialog" , mit der Tradition deutscher Dichtung zu brechen, die seit der Romantik eindeutig monologische Züge trägt, besonders Gottfried Benn beharrt auf dem "unbestreitbar monologischen Charakter" der Lyrik. Im "Meridian" hingegen heißt es:
"Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben." (GWIII, 198)
Das entspricht der "Flaschenpost" Mandelstamms, die die Aufzeichnung des Schicksals des "Seemanns" und seinen Namen enthält. Sprache ist also zunächst "gestaltgewordene Sprache des Einzelnen" (GWIII, 197f.). Celan meint weiter:
"Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.
Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen." (GWIII, 198)
Damit wird die "Sprache des Einzelnen" zum "Gespräch" - "oft ist es ein verzweifeltes Gespräch." (GWIII, 198) Einige Interpreten gehen davon aus, daß Celan im Gedicht den Kommunikationsakt in reiner Form ausdrücken möchte. Dafür spricht die Äußerung Celans in einem Brief an Hans Bender, er sehe "keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht." (GWIII, 177)
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