Durch Mead erhält der Pragmatismus eine neue, sozialphilosophische Dimension. Obzwar Mead selbst nur wenig veröffentlichte, wurde er durch seine Vorlesungen zur Sozialpsychologie (hptsl. an der University Of Chicago), die in Studentennachschriften überliefert sind, sehr bekannt.
Meads Sozialanalysen sind bereits in seinen ersten Schriften komplex strukturiert: Er lehnt alle Sozialtheorien mit utopischem Charakter, die einen bloß programmatischen Zugang suchen, ab, und votiert für die vorsichtiger Erprobung einzelner Hypothesen, die, wenn sie sich bewähren, in dem komplexen Kräftespiel, in das sie eingebracht werden, reale Wirkungen erzielen.
Selbst
Bei Mead wird die These, dass Geist, Bewusstsein und Selbstbezug weder biologisch-empirisch noch apriorisch (wie bei Descartes als res cogitans) vorliegen, sondern in Prozessen der , durch kommunikative Gesten, in einem (sozialen) Zeichenprozess entstehen, ins Zentrum einer pragmatischen Analyse gerückt. Diese Leitthese steht in diametralen Gegensatz zu allen atomistischen Zugangsversuchen, wie bei Thomas Hobbes, für die Gesellschaft (grob gesprochen) ein Sekundäreffekt der Zusammenkunft entwickelter Subjekte darstellt. Mead setzt umgekehrt beim sozialen "Ganzen" ein: Das Verhalten eines Individuums kann nur in Verbindung mit dem Verhalten der ganzen gesellschaftlichen Gruppe verstanden werden. Das Individuum liegt nicht als gegebenes "Element" vor, es emergiert (in höhere Seinsstufen vordringen) vielmehr erst nach und nach in sozial dimensionierten Lernprozessen (v.a. der Einübung des Gebrauchs "signifikanter Symbole"). Zudem ist das entwickelte Selbst "reflexiv", es ist "an object to itself". Nichtreflexive Formen (Gesten) sind dort anzutreffen, wo ein gestisches Verhalten mechanische Anschlussreaktionen auslöst, als kausaler Stimulus. Mead gibt das Beispiel der Interaktionen kämpfender Hunde: Zu Beginn des Kampfes fletscht Hund A die Zähne. Hund B reagiert mit fletschen seiner Zähne oder mit einer Unterwerfungsgeste. Die zweite Reaktionsvariante führt dazu, dass A seinen Angriff stoppt und B lauernd umkreist. Auch im Humanbereich erhalten sich viele dieser unbewussten(nichtreflexiven) Formen, es gibt aber auch bewusste, z.B. wenn ein Boxer im Ring Finten einsetzt. Wie emergiert nun aber die menschliche Reflexivität aus der unbewussten Soziostruktur tierischer Interaktionen?
Einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage erhofft sich Mead vom Konzept der "Lautgebärde". Dieses auditive Signal zeichnet v.a. aus, dass sie nicht nur ein Zeichen für andere sondern auch Selbstaffektion ist, da man sich ja selbst hören kann. Diese Koinzidenz ist eine Voraussetzung für den reflexiven Selbstbezug: Wir werden für uns selbst zum Objekt und sind zugleich diejenige Instanz, die dies beobachtet. Dass nicht jeder Menschenaffe den Weg zur sprachlich vermittelten Selbstreflexion (einem humanen Spezifikum) eingeschlagen hat, zeigt andererseits, dass die Lautgebärde nur einen Teilaspekt der Emergenz des Selbst beleuchtet.
Mead untersucht andere Teilaspekte der Emergenz des Selbst, die hier nicht näher erläutert werden können. Er schreibt zusammenfassend: "Das Selbst, das für sich selbst Objekt werden kann, ist im wesentlichen eine soziale Struktur und entsteht aus sozialer Erfahrung. Wenn es sich einmal entwickelt hat, versorgt es sich in gewissem Sinn mit seinen eigenen sozialen Erfahrungen. Somit können wir uns ein absolut solitäres Selbst vorstellen, aber nicht ein Selbst, das außerhalb menschlicher Erfahrung entsteht." Somit wird das Selbst, durch das komplexe Interaktionsgefüge sozialer Gruppen in modernen Gesellschaften bestimmt. Bei oberflächlicher Lektüre könnte man meinen, dass der soziale Prozess des "role taking" eine bloße Subsumation des Individuums unter das Allgemeine ist. Jedoch ist bei Mead die Übernahme sozialer Rollen mehr als deren wiederholende Reproduktion und setzt flexible Interpretation voraus. Zweitens wird jedes Selbst mit konträren (sich zum Teil widersprechenden) Rollen und Institutionen konfrontiert. "Natürlich sind wir nicht nur das was uns allen gemeinsam ist; jedes Selbst ist von jedem anderen verschieden." Individuen sind, unter dieser Optik, spezifische, umgestaltbare "Kompromisse" aus den unterschiedlichen, einander übergreifenden Profilen jener Gruppen denen sie angehören (z.B. Gruppe der Studenten /Familienväter /Opernfreunde etc.).
Wie bereits erwähnt ist das Selbst reflexiv. Es handelt und beobachtet sich selbst: es ist - nach Mead - gedoppelt, "I" (ich) und "me" (mich). Das ist das empirische Selbst, das ich und die anderen hören und sehen und auf das sie und ich reagieren, also der beobachtbare Teil des Selbst. Das ist der beobachtende Teil des Selbst. Mead behauptet, dass es ein nur geben könne, wenn das Selbst darüber hinaus der (Selbst)Beobachter, ist.
Die These, dass das Selbst sozial emergiert, verweist uns also - wenn wir sie pragmatisch, d.h. mit Blick auf ihre mögliche, künftige Wirkung betrachten - darauf, soziale Lernformen voll zu entfalten in einer demokratischen Öffentlichkeit, die uns für die Reflexionsangebote anderer - an denen wir unser Selbst weiterbilden und moralisch sensibilisieren können empfänglich macht. Dieses Thema wird durch Mead´s Freund Dewey ins Zentrum des Pragmatismus gerückt.
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