Gedichtinterpretation
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Das Gedicht "Sachliche Romanze" von Erich Kästner, das 1929 verfasst wurde, spiegelt den Alltag eines Pärchens, dessen langjährige Beziehung dem Ende zugeht, wider.
Dabei soll verdeutlicht werden, dass das zwanghafte Festhalten an einer Beziehung sinn- und zwecklos ist, wenn die Liebe zwischen beiden Partnern schon längst erloschen ist.
Das Gedicht hat vier Strophen, wobei die ersten vier Quartette sind, und die letzte Strophe ein Fünfzeiler (?) ist. Das Metrum ist der Trochäus, wobei die ersten drei Strophen, die dem Paarreim unterliegen, jeweils fünf Erhebungen haben, die abwechselnd mit männlicher und weiblicher Kadenz enden. Die vierte Strophe unterliegt keinem bestimmten Reimschema, sodass die Kadenz am Ende der Verse ebenso keine Regelmäßigkeit aufweist. Weitere Formmerkmale sind eine Einklammerung in Vers zwei, sowie ein Gedankenstrich am Ende von Vers elf.
Die erste Strophe beschreibt das zentrale Thema des Gedichts und somit das Auseinanderleben eines Pärchens nach einer längeren Beziehung.
Die Einklammerung in Vers zwei, die ein Kommentar des lyrischen Ich´s, in diesem Fall einem Außenstehenden beinhaltet, könnte darauf hinweisen, dass außen stehende Personen generell nicht viel an der Beziehung der beiden teilhaben (V2; " (Und man darf sagen: Sie kannten sich gut)). Gerade das Verb "darf" lässt darauf schließen, dass andere Personen über die Beziehung aufgrund ihrer Isolation eigentlich nichts sagen können.
Vers drei und Vers vier lassen im Folgenden erkennen, dass die Beziehung der beiden vermutlich schon über einen längeren Zeitraum sehr gefühlskalt ablief (V3f; " kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.")
Der Ausdruck " plötzlich abhanden" (vgl. V3) ist ein Paradoxon, da es ein scheinbarer Widerspruch ist, dass ein Gefühl wie Liebe einfach "abhanden" kommt, dieser Ausdruck wird normalerweise nur im Gebrauch mit Dingen verwendet.
Dies wird auch im nachfolgenden Vergleich verdeutlicht (V4; "Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut"). Schließlich verdeutlichen das Paradoxon und der Vergleich, dass es eigentlich unmöglich ist, dass ein Gefühl so plötzlich verschwindet, weshalb man davon ausgehen kann, dass die Beziehung schon länger von Gefühlskälte und somit auch von Monotonie geprägt war- dies ist beiden Partnern nur erst jetzt zu Bewusstsein gekommen oder es gab ein entsprechendes Schlüsselerlebnis.
Zudem lässt der Vergleich mit Gegenständen darauf schließen, dass ihre Liebe zueinander für beide keine Bedeutung mehr hat, sozusagen "wertlos" geworden ist.
In Strophe zwei wird zunächst beschrieben, wie beide Partner versuchen, nach dieser Feststellung mit der Situation umzugehen.
Auffallend dabei ist ein Chiasmus (V4f; "Sie waren traurig, betrugen sich heiter,"), bei dem die Verben "traurig" und "heiter" gegenübergestellt werden, sodass der Ausdruck zunächst etwas widersprüchlich scheint.
Bei näherem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass dieses Verhalten durchaus rational zu erklären ist.
Denn sie sind einerseits traurig, dass die Beziehung zu Ende geht, da die Bindung, obwohl die Liebe erloschen ist, immer noch eine große Sicherheit und etwas Vertrautes für beide birgt -schließlich waren sie sehr lange zusammen.
Andererseits betrügen sie sich heiter, da dies endlich ein Ausbruch für beide ist; aus der Monotonie ihrer Beziehung, in der es keine Gefühle mehr gibt, und eventuell auch aus der Isolation die sie um sich herum geschaffen hatten. Somit verstärkt auch dies den Eindruck, dass beide keinen großen Kontakt zur Außenwelt hatten.
Trotz dessen hängen sie noch an der Bindung und der damit einhergehenden Sicherheit, sodass sie es immer wieder versuchen, und den neuen Weg, der sich ihnen zwangsläufig ebnet, verdrängen wollen (V6; "Versuchten Küsse, als ob nicht sei.").
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Die nachfolgende Parataxe in Vers sieben und acht, bestehend aus drei Hauptsätzen, stellt einen Bruch zur vorherigen Hypotaxe dar, welcher ebenso auf den Aussageinhalt übertragbar ist.
Haben beide zuvor versucht, alles zu verdrängen und das Wahre nicht zu sehen, so müssen sie sich nun, im Angesicht des anderen, zwangsläufig die Realität eingestehen (V7f; "Und sahen sich an und wussten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.")
Neben der Parataxe, die, auf den Inhalt übertragen, aufgrund der drei, in sich abgeschlossenen Sätze auch den Abschluss der Beziehung deuten lässt, verstärken auch die drei und- Konjugationen die Schwere, die in diesen Sätzen liegt.
Letztlich beginnt auch sie "schließlich" zu weinen, da ihr der baldige Abschluss der Beziehung klar ins Bewusstsein tritt. Dies ist zudem der Klimax des Gedichtes, hier wird der zentrale Aussagekern dadurch verdeutlicht, dass beide sich die Realität eingestehen müssen.
Der nachfolgende Hauptsatz macht wiederum die Distanz zwischen beiden Partnern erkennbar
(V8; "Und er stand dabei."). Diese inhaltliche Deutung wird ebenso durch die bewusste Trennung des zweiten und dritten Hauptsatzes der Parataxe hervorgehoben.
So steht er zwar bei ihr, jedoch sieht auch er keinen Weg mehr, um ihr und auch ihrer Beziehung zu neuem Glück zu verhelfen.
Nach diesem Blick in die Realität erfolgt in Strophe drei die Flucht zurück in die scheinbare Harmonie des monotonen Beziehungsalltags (V8; "Vom Fenster her konnte man Schiffen winken.").
So wirkt die Beschreibung zwar zunächst idyllisch, bei näherem Betrachten kann das Fenster jedoch auch als "Guckloch zur Außenwelt" gedeutet werden, zu der beide in ihrer Beziehung keinen Kontakt haben. Schließlich könnten die Schiffe ebenfalls die Freiheit symbolisieren, die beide aufgrund der einengenden Beziehung nicht verspüren können und sie somit nur von außen betrachten. Auch die Kontaktaufnahme zu den Schiffen lässt in diesem Zusammenhang darauf schließen, dass sie normalerweise keine oder nur wenige Kontakte zu anderen haben.
In Vers zehn und elf (" Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier Und Zeit irgendwo Kaffee zu trinken.-") wird durch die exakte Zeitangaben zunächst verdeutlicht, dass beide einen sehr monotonen, streng strukturierten Zeitplan haben, indem es wenig Platz für Veränderungen und damit einhergehender neuer Lebendigkeit gibt.
Seine Aussage, dass "(es) Zeit (ist), irgendwo Kaffee zu trinken.-" wird durch den Gedankenstrich als Forderung dargestellt, diesen Zeitplan unbedingt einhalten zu müssen.
Er markiert jedoch auch den Gegensatz zum nachfolgenden Vers(V12; " Nebenan übte ein Mensch Klavier."). Während sie immer ihrem monotonen Zeitplan nachhängen und in völliger Isolation leben, übt ein Nachbar nebenan Klavier, was hier als Symbol für Lebendigkeit und Energie steht, die sie hingegen nicht verspüren können.
Auch das Verb "üben" beschreibt eine Tätigkeit, die im Gegensatz zu ihrem monotonen Leben von immer neuen Veränderungen geprägt ist.
Da die Klavier übende Person hier als "Mensch" und nicht als "Nachbar" bzw. mit dem Namen einer realen Person bezeichnet wird kann man darauf schließen, dass sie selbst nicht wissen, wer ihr Nachbar ist, sodass dies abermals auf die Isolation hinweist.
Die letzte Strophe beschreibt schließlich einen Versuch der beiden, Nähe aufzubauen und die Beziehung zu retten. "So (gehen) sie ins kleinste Café am Ort" (vgl. V13), wobei der Superlativ "kleinste" aud zwei unterschiedliche Arten gedeutet werden kann. So könnte es zunächst sein, dass sie normalerweise ebenso immer ins kleinste Café gehen, was wiederum auf die Isolation der beiden hinweisen würde, zumal das Café auch "am" und nicht im Ort, also nicht mitten im Geschehen, liegt. Zudem könnte dadurch auch verdeutlicht werden, dass sie bewusst das kleinste Café ausgesucht haben, um die verloren gegangene Nähe wieder aufzubauen.
Letztlich schlägt dieser Versuch jedoch fehl, und aus der beabsichtigten Harmonie wird schließlich die Realität und somit die Monotonie (V14; "Und rührten in ihren Tassen.")
Hierbei verdeutlicht das Verb "rühren", eine langsame, immer fortwährende Bewegung, eben diesen Sachverhalt.
Die große Erwartungshaltung und damit die Hoffnung der beiden, Nähe aufzubauen, wird zudem durch das groß geschriebene "Und" am Versanfang verdeutlicht, da dadurch Spannung aufgebaut wird, was als nächstes passiert. Diese findet jedoch schnell wieder ihren Abbruch, da danach eben doch wieder die fortwährende Monotonie eintritt. 2
Schließlich "(sitzen sie) Am Abend (.) immer noch dort.", da sie darauf warten, dass etwas mit ihnen passiert und das Ende nicht wahrhaben wollen. Eventuell wollen sie auch gar nicht nach Hause gehen, da sie sich dann eingestehen müssten, dass ihr Versuch fehl geschlagen ist -der Café-Besuch hätte dann schließlich nichts bewirkt und in ihrer für sie einengenden, viel zu vertrauten Wohnung wird es erst recht keine Veränderung geben.
Der nächste Vers (V16; "Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort") lässt ebenso mehrere Deutungsmöglichkeiten zu.
So steht der Ausdruck "Sie saßen allein" entweder dafür, dass sie isoliert von allen anderen Gästen sitzen oder, dass sie, obwohl sie neben einander sitzen, alleine sind und keine Verbindung zueinander haben. Trifft hierbei letzteres zu, könnte man diesen Ausdruck ebenfalls als scheinbaren Widerspruch, als Paradoxon sehen.
Der letzte Vers (V17; "Und konnten es einfach nicht fassen") beinhaltet abschließend wieder den unabdingbaren Blick in die Realität, d.h. sie können und wollen es nicht wahrhaben, dass alles vorbei ist. Letztlich bleibt jedoch auch hier die Möglichkeit, auf zweierlei Weise zu interpretieren. Schließlich könnte es ebenso heißen, dass sie es nicht schaffen, die Harmonie, das Glück, noch einmal zu fassen.
Auffallend ist zudem noch, dass man im ganzen Gedicht nicht die Namen der beiden Partner erfährt, hier folglich immer nur von "er" bzw. "sie" gesprochen wird. Dies lässt die Deutung zu, dass beide ihrer Beziehung nicht eindeutig profilieren konnten, sodass schließlich auch ihre Individualität darin verloren ging.
Durch die Überschrift "Sachliche Romanze" wird der eigentliche Kern des Gedichts hervorgehoben.
Denn durch diese Antithese und durch die Paradoxie, dass Liebe oder Romantik rein gar nichts mit Sachlichkeit gemeinsam haben, wird deutlich, dass die Beziehung eigentlich gar keine Romanze mehr ist und dass beide Partner dies zwangsläufig erkennen müssen.
Denn wenn alle Gefühle versiegt sind, gibt es folglich auch keine Leidenschaft mehr, keinen lebendigen Aktivismus, der irgendeine Veränderung auslösen könnte, sodass jegliches Hoffen demnach sinn- und zwecklos ist.
In diesem Sinne sehe ich meine anfängliche Deutungshypothese bestätigt, es bringt also nichts, zwanghaft an einer "Sachlichen Romanze" festzuhalten.
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