Im Juli 1901 legte Kafka das Abitur ab und fährt für einige Wochen nach Norderney und Helgoland. Die Freiheit nach der Entlassung aus dem trostlosen Zwang des Gymnasiums gedachte er immerhin zu nutzen. Er beginnt vorerst, mit Oskar Pollak (und sicher unter seinem Einfluß) Chemie zu studieren, tritt aber bereits nach vierzehn Tagen in die "erwünschte" juristische Fakultät über. Die ledernen Vorlesungen über das "Institut des römischen Rechts", an denen er teilzunehmen hatte, konnte sein Interesse allerdings nicht wecken, und so wechselte Kafka im Sommer wiederum die Studienrichtung und hört Kunstgeschichte und besonders Germanistik bei August Sauer. August Sauer spielte damals eine führende Rolle im Nationalitätenhader. Er war der Initiator der Literaturgeschichte seines Schülers Josef Nadler und schon damals ein strikter Verfechter der Theorie von der Stammes- und Landschaftsgebundenheit der Literatur. Diese Ansichten waren Kafka fremd, und dementsprechend finden sich in den Briefen jener Zeit an Oskar Pollak auch scharfe Angriffe gegen August Sauer. Jedenfalls wollte Kafka Germanistik nicht mehr in Prag weiterstudieren. Der Vater weigerte sich aber ein Studium in München zu finanzieren und so nahm er im Wintersemester wiederum das juristische Studium auf. Es erlaubte Gleichgültigkeit und verlangte lediglich, wie Kafka schreibt, daß ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausend Mäulern vorgekaut war. 14
Mit dem Jusstudium schien die Schuld gegenüber dem Elternhaus abgetragen. Kafka hörte lediglich die vorgeschriebenen Vorlesungen und promovierte nach der geforderten Mindestzahl von acht Semestern. Durch seinen Schulfreund Pribam (dessen Vater der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt" angehörte, deren Beamter Kafka später wurde) wird er auch in jene führende Klasse von Industriemagnaten, Professoren und Hochadel eingeführt, die ihm sonst verschlossen geblieben wäre. In den Semesterferien fährt Kafka regelmäßig in die Provinz (häufig zu Verwandten), nach Liboch oder Strakonitz, meistens aber nach Triesch, einem kleinen Ort in Mähren, wo sein Onkel Siegfried (den er bis an sein Lebensende verehrte und dessen Meinungen und Welt er in der Erzählung Ein Landarzt andeutet) als Landarzt lebte.
Während des Semesters besucht er regelmäßig die Aufführungen des Tschechischen oder Deutschen Theaters, ebenso die von der "Lese- und Redehalle deutscher Studenten" veranstalteten Vorträge und Dichterlesungen. Hier lernt Kafka Max Brod kennen, der im Oktober 1902 über Schopenhauer sprach und dabei Nietzsche als "Schwindler" bezeichnete. "Nach diesem Vortrag", berichtet Brod, "begleitete mich Kafka, der um ein Jahr Ältere, nach Hause. Er pflegte an allen Sitzungen teilzunehmen, doch hatten wir einander bis dahin kaum beachtet. Es wäre auch schwer gewesen, ihn zu bemerken, der so selten das Wort ergriff und dessen äußeres Wesen überhaupt eine tiefe Unauffälligkeit war.... Damals aber war er aufgeschlossener als sonst, ...." 15
Kafkas Neigung für Nietzsche und seine Nietzsche-Lektüre gehen auf Oskar Pollak und besonders den "Kunstwart" zurück. Diese von Nietzsche mitbegründete Halbmonatsschrift, die Kafka bereits im letzten Gymnasialjahr abonnierte, hatte besonders auf die Jugend einen außerordentlichen Einfluß. Das "Kunstwart"-Erlebnis machte Kafka gegenüber allen von außen angebotenen "Lösungen" nach vorsichtiger, die Umwelt wird noch sorgfältiger geprüft. Als knapp Zwanzigjähriger spricht er mit erschütternder Selbstverständlichkeit von einem gefrorenen Meer in uns , wenn auch gleichzeitig von der Axt, die es spalten soll. Es ist der Wunsch nach einem empfindlicheren Gewissen und größerer Klarheit, der jetzt nach dem "Kunstwart"-Dunst um so entschiedener durchdringt. Die Situation, in der zwischen den Dingen willkürlich Bezüge gesetzt werden, ist der des Traumes ähnlich, und die einzige Tagebuchnotiz, in der Kafka von dieser Entscheidung in seiner Jugend spricht, beschreibt sie:
Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen, in der das Leben zwar sein natürliches schweres Steigen und Fallen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordent-licher Handwerksmäßigkeit zusammenzu-hämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun, und zwar nicht so, daß man sagen könnte: "Ihm ist das Hämmern ein Nichts", sondern "Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts", wodurch
ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre. Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, es war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Element fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des "Wunsches" ergeben. 16
Der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen, die es gleichzeitig als ein Traum, als ein Schweben erscheinen lasse, ist in der Tat der Abschied von der Scheinwelt der Jugend. Wie schon die Lösung vom "Kunstwart" zeigt, entwickelte sich in diesen Jahren bei Kafka die Schärfe und Unerbittlichkeit des Urteils, die von nun an bestehen bleibt.
Unsicherheit und Selbstanalyse, Urteilsmagie und Fremdheit der Dinge, Staunen, scheue Distanz und Sehnsucht nach Freundschaft - dies war die Welt des jungen Jurastudenten, und die Umwelt, wenn sie auch nur als Negativ erscheint, war entschieden daran beteiligt.
Das Studium der Rechte, das Kafka auf sich genommen hatte, bedeutete besonders in den letzten Semestern eine Qual. Den Anstrengungen dieses Paukbetriebes war er kaum gewachsen: Anfang Juli 1905 fährt Kafka in ein Sanatorium in Zuckmantel, einem kleinen, von Wäldern und Seen umgebenen Ort. Genau zehn Jahre später schreibt er an Max Brod: Im Grunde war ich noch niemals mit einer Frau vertraut, wenn ich zwei Fälle ausnehme, jenen in Zuckmantel (aber dort war sie eine Frau und ich ein Junge) und jenen in Riva. 17
Beide Begegnungen ereigneten sich fern von Prag, über beide hat Kafka strenges Stillschweigen bewahrt.
Nach der Rückkehr nach Prag begannen jene schrecklichen Monate vor der mündlichen Prüfung zur Erlangung des Doktorgrades, in denen Kafka sich unter reichlicher Mitnahme der Nerven förmlich von Holzmehl nährte. Das Protokoll der Prüfung vermerkt ein knappes, "mit drei von fünf Stimmen für genügend erklärtes" Bestanden, und auch der Prüfling gab zu, daß es sehr lustig, wenn auch nicht kenntnisreich gewesen sei. 18 Am 18. Juni 1906 wurde Kafka zum Doktor der Rechte promoviert.
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