E.T.A. Hoffmanns Novelle "Der Sandmann" beschreibt die Erlebnisse des Studenten Nathanael, der durch diese Erlebnisse mit seinen innersten Ängsten konfrontiert wird, ohne dabei von seinen Freunden verstanden zu werden. Dieses Verständnis
Für ihn scheint einzig und allein die Puppe Olimpia zeigen zu können, nicht aber seine Geliebte Clara oder ihr Bruder Lothar.
Ausgelöst durch das Erscheinen des Glashändlers Coppola werden in Nathanael Erinnerungen an den Alchimisten Coppelius wachgerufen, den Nathanael für den Tod seines Vaters verantwortlich macht. Er beschreibt dies alles in einem Brief, den er an Lothar schicken wollte, der aber durch einen Fehler Nathanaels an Clara gelangt.
So erfährt Clara von Nathanaels traumatischen Erlebnissen und verfasst einen Antwortbrief, in dem sie distanziert die von Nathanael geschilderten Ereignisse betrachtet. Sie interpretiert das Geschilderte äußerst rational und offenbart Nathanael, Coppelius sei lediglich eine "dunkle Macht" (S. 14), die nur durch den Glauben an sie existiere und Einfluss auf den Gläubigen ausüben könne. In ihrem Brief an Nathanael geht Clara wenig auf seine Gefühle ein, sie bezieht sich auf Fakten, die sie teilweise im Gespräch mit ihrem Bruder erfahren hat. Noch deutlicher wird Claras Unverständnis gegenüber Nathanael als er Clara besucht und dort eine Zeit lang wohnt. Nathanael, der sich, ausgelöst durch seine Begegnung mit Coppola, stärker mit mystischen Schriften befasst, liest Clara aus seinen Texten vor; Clara reagiert jedoch abweisend darauf, wodurch Nathanael sehr erzürnt das Zimmer verlässt (S.22f.). Clara zeigt keinen Anteil an Nathanaels Interesse für das Mystische, sie ist lediglich besorgt, "dass dieser widerwärtige Dämon auf entsetzliche Weise ihr Liebesglück stören werde." (S.22). Es ist allerdings nicht dieser "Dämon", der ihr Liebesglück zerstört, sondern Claras geringe Wertschätzung für Nathanaels Interessen. Dies äußert sich besonders stark in dem Vorfall auf Seite 25, der in einem Zweikampf zwischen Lothar und Nathanael endet, aber durch Clara unblutig beendet werden kann.
Diese Situation und die Briefe vorher zeigen, dass auch Lothar, ähnlich wie Clara, kaum mit Nathanael mitfühlt. Genau wie Clara betrachtet Lothar Nathanaels Erlebnisse in distanzierter, rationaler und wissenschaftlicher Weise. Hinzu kommt bei Lothar noch die Beziehung zu seiner Schwester Clara, die er immer in Schutz nimmt und verteidigt. Dies zeigt sich in dem Zweikampf, den Lothar beginnt, weil er Clara durch Nathanael verletzt sieht und ebenfalls am Ende der Geschichte, als Lothar eine Tür aufbricht, um Clara vor Nathanael zu retten (S.42).
Sowohl Clara als auch Lothar betrachten also die von Nathanael geschilderten Ereignisse distanziert.
In der Puppe Olimpia, die Nathanael nicht als solche erkennt, findet er jemanden, der Verständnis für ihn zeigt. Für Nathanael ist Olimpia die einzige Möglichkeit offen über seine Ansichten sprechen zu können, ohne dabei kritisiert zu werden. Nathanael hat das Gefühl, einzig und allein von Olimpia verstanden zu werden. In ihr sieht er seinen Seelenverwandten, denn er kann ihr all seine Gedanken und Schriften vortragen, "welches alles Olimpia mit großer Andacht anhörte." (S.35)
Von Euphorie über das ihm entgegengebrachte Verständnis, wundert sich Nathanael nicht weiter über die Apathie und Wortkargheit Olimpias und vergisst ganz, dass es Clara und Lothar gibt. Zu diesem Zeitpunkt ist Olimpia für ihn der einzige "Mensch" und die anderen nur leblose Automaten ("Du lebloses, verdammtes Automat" (S.25)). Nathanael vertauscht also Realität und Traumwelt; er sieht eine Puppe als Mensch und Menschen als Puppen.
Nathanael kann in der Gesellschaft in der er lebt, seine Gefühle, Phantasien und Träume nicht ausleben und sich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Er findet allerdings in der Puppe Olimpia eine Möglichkeit dazu.
Ich denke, Hoffmann äußert damit Kritik an der Gesellschaft, die dargestellt wird durch Clara und Nathanael. Die Gesellschaft kann oder will sich nicht mit solchen irrationalen Dingen wie Träumen, Phantasien oder Geisteskrankheiten auseinandersetzen. Das macht den "Sandmann" zu einem typischen Werk der Romantik, die gerade solche, teilweise transzendentale Dinge zum Thema hat und damit die Zeit der Aufklärung und des rationalen Denkens kritisiert.
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