Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, dass es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt\". (S.94 Z. 28ff.) Mit diesen Worten, die als ein Appell an den Leser zu verstehen sind, beendet Eichendorff seine Novelle \"Das Schloss Dürande\". In der Novelle \"Das Marmorbild\" finden wir am entscheidenden Wendepunkt den Satz: \"Es kommt nach allen heftigen Gemütsbewegungen, die unser ganzes Wesen durchschüttern, eine stillklare Heiterkeit über die Seele, ...\" (S.47, Z.17-20). Sowohl mit der Metapher \"das wilde Tier ... in der Brust\", als auch mit der Benennung der \"heftigen Gemütsbewegungen\" sind bei Eichendorff die Leidenschaften gemeint. Der Dichter reiht sich damit in eine jahrhundertealte Tradition ein, welche die Leidenschaften vor allem in ihren negativen, zerstörerischen Aspekten betrachtet. Diese müssen von einer anderen Kraft im Zaum gehalten werden. Kann die Aufklärung diese noch in der Vernunft erblicken, so ist dies den Romantikern nach den Erfahrungen der Jakobinerdiktatur und der napoleonischen Herrschaft nicht mehr möglich.
Inwieweit Florio und Renald von ihren Leidenschaften beherrscht werden, lässt sich also daran beurteilen, inwieweit bei ihnen andere zügelnde Kräfte zum Tragen kommen.
Eichendorff thematisiert im \"Marmorbild\" die Gefahr in eine zauberhafte Phantasiewelt abzugleiten. Der Reiz, den die versunkene heidnische Welt auf Florio ausübt, führt ihn zu einem Schwanken zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zur Vermischung der Realitätsebenen: er kann Phantasie, Traum und Wirklichkeit kaum noch auseinanderhalten. Die Täuschungen, denen er sich ausgesetzt sieht, führen ihn beinahe in den Tod. Zwar widerstand er, gestärkt durch das Lied Fortunatos, der Verführung durch die Venus (vgl. S. 38 Z. 3 - S. 39 Z. 33), jedoch ergriff ihn nachher eine \"unendliche Wehmut\" und er sehnte sich \"unwiderstehlich ... zu sterben.\" (S. 42 Z. 29f.) Erst als Fortunato Florio später über die Macht der Venus aufklärt und ihm gleichzeitig die Kraft verrät, durch welche den Verführungen widerstanden werden kann, fühlt sich Florio befreit und wendet sich dem Leben wieder zu. Nur der \"redliche Dichter\" wie Fortunato, ein Sänger der Liebe ohne \"Melancholie, den Mondschein und alle den Plunder\" (...) (dies bezieht sich auf Donati), ist von der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Verführung befreit. \"[D]enn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen.\" (S.47 Z.2-4) Die Kraft, welche im \"Marmorbild\" die Leidenschaft Florios zügeln kann, ist also die mit der Religion verbundene Kunst, wie sie in dem rettenden Lied Fortunatos zum Ausdruck kommt, als Florio der Verführung durch die Venus schon fast erliegt. Nur durch die Hilfe von außen gelingt es Florio also, seinen Leidenschaften nicht zum Opfer zu fallen. Obwohl die Novelle ein positives Ende nimmt, bin ich der Meinung, dass Florio eines jener \"sorglosen Gemüter\" ist, die \"in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren.\" (S. 46 Z. 12-20) Florio erscheint mir ganz und gar unselbständig, es ist nur ein glücklicher Zufall, dass ihm Fortunato zur Seite steht.
Auch in der Novelle \"Das Schloss Dürande\" gibt es keine autonome Kraft des Helden, die seine Leidenschaften zügeln könnte. Dem Leser wird hier nahegelegt, dass eine funktionierende Beziehung zwischen dem Adel und dem Volk, also eine geordnete politisch-soziale Struktur, in der Lage wäre die zerstörerische Seite der Leidenschaften zu bändigen. Die politischen Beziehungen, wie sie Eichendorff darstellt, sind jedoch zerrüttet, sodass die Novelle folgerichtig mit dem Untergang des Helden endet.
\"Das wilde Tier in der Brust\" Renalds entfaltet jedoch nicht sofort seine zerstörerischen Kräfte. Zunächst sucht er nach gewaltfreien Auswegen, um sein Ziel zu erreichen. Er geht zum alten Grafen, zu verschiedenen Advokaten und der Polizei, und er versucht zum König vorzudringen - alles jedoch ohne Erfolg. Zwar fühlte er sich schon anfangs nach dem Besuch beim alten Grafen \"wie ein gefesselter Löwe\"(..), trotzdem entscheidet er sich erst nach mehrmaligen und enttäuschenden Versuchen sein als Recht geglaubtes Anliegen durchzusetzen zum offenen Aufruhr. Hinzu kommen die aufstachelnden Begegnungen, die Renald mit Revolutionären in Paris hat. In seiner ausweglosen Situation versucht Renald auch zu Gott zu beten, jedoch ist er nicht gläubig genug, um seinen Schuldnern Vergebung zu leisten. Renalds fanatisches Verlangen nach Gerechtigkeit und die Liebe zu seiner Schwester [Komma?] sowie das Fehlen einer helfenden Hand von außen in einer politisch und sozial schwierigen Zeit führten hier ins Unglück. Seine Entwicklung ist von einer Zunahme der Gewaltbereitschaft bestimmt, sodass er auch in dem Augenblick, in dem ihm durch Nicolo die wahren Verhältnisse berichtet werden, nur noch einen gewaltsamen Ausweg findet.
Zusammenfassend möchte ich folgendes feststellen: Florio ist sorglos und unbekümmert. Aus diesem Grunde ist sein Gemüt schutzlos gegenüber den Versuchungen der Leidenschaft. Er benötigt Hilfe von außen und erhält diese in Gestalt Fortunatos. Renald ist zwar eher nachdenklich und abwägend. Da er jedoch von den äußeren Verhältnissen enttäuscht ist und ihn keine bindende Gewalt zur Ruhe zwingt, entfaltet sich letztendlich der Wille zur Zerstörung. Damit erliegt er den Verführungen der Leidenschaft.
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