Das Wort "Kurzgeschichte" ist eigentlich eine Lehnübersetzung der amerikanischen "Short story". Diese hat ihren Ursprung im antiken Griechenland, aber erst im 19. Jh. entwickelte sich in Amerika die Short Story aus älteren, erzählenden Formen wie den Novellen, Märchen einerseits und mehr faktenbestimmten Anekdoten und Skizzen andererseits. Als eigentliche Begründer gelten W. Irving und J. K. Paulding. Theoretisch definiert und praktisch zur Kunstform erhoben wurde sie von E. A. Poe.
Die Kurzgeschichte ist aber nicht mit ihr deckungsgleich, da sie gegen andere Formen der Kurzprosa, insbesonders Novelle, Anekdote und Skizze, abzugrenzen ist. Der Reiz am Lesen einer Kurzgeschichte wurde im 20. Jh. durch die Werke der Schriftsteller F. Kafka, J. L. Borges und Thomas Mann verstärkt.
Die besonderen Merkmale der Kurzgeschichte sind geringer Umfang, gedrängte, bündige Komposition, Verzicht auf Illusion und Rahmen, offener Schluß, Typisierung der Personen, Ausarbeitung der Details und, wie im folgenden Text, Reduktion auf ein entscheidendes Moment im alltäglichen Leben.
von Doderer, Heimito; Leon Pujot
Precis
Der Ausschnitt aus Leon Pujots Leben befaßt sich mit seiner "zweiten Geburt" und seinem Weg von der Fremdbestimmtheit zur Selbstbestimmtheit.
Inhaltsangabe
Leon Pujot lebt als Kind bei Zieheltern, die ihm die Chance geben, ein ganz normales Leben zu führen. Später arbeitet er kurz als Maschinenführer und dann als Taxifahrer in Nancy. Monatlich zweimal chauffiert er einen Fabrikanten nach Paris und bringt auf dem Rückweg die Tochter seiner Zieheltern nach Nancy. Wenn sie einmal nicht mit ihm fährt, hält er sich resigniert an die Züge, die ihn nach Hause begleiten.
Eines Tages, er steht pünktlich bei einer kleinen Station, die Dampffahne des Zuges weht heran, und er macht sich für die Abfahrt bereit, bleibt der Zug nicht wie gewöhnlich stehen, sondern donnert durch die Station. Leon Pujot fährt los, erhöht das Tempo, holt den Zug ein, fährt an in heran und springt, sich von seinem Taxi abstoßend, auf die Lokomotive auf.
Er sieht die bewusstlosen Zugführer und übernimmt deren Aufgabe. Leon Pujot lehnt es ab, den Koloss in voller Fahrt zum Stillstand zu bringen und reduziert das Tempo langsam.
Als die Lok steht, werden die Zugführer von den aufgeregten Schaffnern in ein Abteil gebracht. Anschließend setzt er den Zug wieder in Bewegung und bringt ihn sicher in den nächsten Bahnhof.
Kommissionen werden entsandt, und so manches Glas wird auf Leon Pujot gehoben. Dieser verlässt, den Aufruhr außer Acht lassend, den Bahnhof und denkt darüber nach, wie er sein Leben, das ihm durch diesen Vorfall abgerissen scheint, fortsetzen könnte.
Interpretation
Leon Pujot, ein Mensch, der sich sein bisheriges Leben lang der Fremdbestimmtheit nicht entzog, durchlebt seine "zweite Geburt". Jahrelang an die Zieheltern gebunden, versucht er sich für die ihm gegebene Chance, ein normales Leben zu führen, zu revanchieren. Jahrelang verschwendet er Zeit damit, sich auf Fahrten ohne Kunden an Züge und deren Fahrpläne zu halten und nimmt sein Leben nicht selbst in die Hand.
Mit der Entscheidung, den anscheinend führerlosen Zug und dessen Passagiere zu retten, gibt er sich eine Chance, aus seinem "Kokon" zu entschlüpfen. Mit einer Art verabschiedendem Fußtritt trennt er sich von seinem Taxi und nimmt somit die Verantwortung auf sich.
Durch die von ihm bestimmten Ereignisse rettet er den Zug und unbewußt auch die Tochter seiner Zieheltern, wodurch er, als er dies erfährt, seine Pflicht erfüllt sieht. Von diesem Moment an nimmt er sein eigenes Leben selbst in die Hand.
Persönliche Meinung
Mir gefällt diese Geschichte sehr gut, da sie ein Thema anschneidet, mit dem wir, d.h. meine Schulkollegen, andere Kinder und ich selbst konfrontiert werden: Der Weg von der Fremd-bestimmung zur Selbstbestimmung. Weiters finde ich an ihr die Schreibweise und das Beispiel der Menschwerdung Leon Pujots interessant.
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