Der historische Galilei war und ist einer der bedeutendsten Wissenschaftler überhaupt; er gebrauchte als erster die Mittel der wissenschaftlichen Beweisführung. Die für die Literatur in diesem Zusammenhang aber wichtigere Tatsache ist die mit der Aufstellung dieser Prinzipien eng verbundenen philosophischen und moralischen Fragen. So sind gerade heute all die Fragen rund um die Wissenschaft und deren Aufgaben/Pflichten, die sich Galilei als einer der ersten stellen musste, wieder von zentraler Bedeutung. Brechts ,,Leben des Galilei\" zeigt neben Galilei, der die wohl bedeutendsten Fragen zu diesem Thema formuliert, auch viele andere Figuren mit ganz unterschiedlichen Auffassungen zur Frage nach der Aufgabe/Funktion der Wissenschaft. Bei den Ratsherren und dem Kurator von Venedig z.B. finden wir eine rein utilitaristische Haltung gegenüber der Wissenschaft, wobei wir bei deren klaren Interessen für militärische Erfindungen am Horizont schon die drohende Atombombe aufziehen sehen. Auch Andrea Sarti hat in jüngeren Jahren ein moralisch be¬denkliches Wissenschaftsbild, wozu Galilei später sagt: ,,Die Kluft zwischen euch (den Wissenschaftlern /B.T) und ihr (der Menschheit /B.T) kann eines Tages so gross werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.\"(S. 126). Sowohl bei Galilei wie auch (etwas später) bei Andrea reift dann ein Wissenschaftsbild heran, in dem sie sich mehr und mehr als Wissenschaftler auch verantwortlich fühlen für die Konsequenzen, die die Forschungsergebnisse und Erfindungen für die Menschheit haben könnten oder haben sollen - Fragen, die heute für jeden Wissenschaftler neben der Forschung absolut erstrangig sind. Der kleine Mönch wiederum bringt Leben in die Diskussion über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Für die kirchliche Obrigkeit schliessen sich Religion und Wissenschaft gegenseitig aus, während der kleine Mönch (wie auch Galilei) sie gut in seinem Weltbild zu verei¬nigen weiss. Es ist offensichtlich, dass Brecht vor allem Galileis Wissenschaftsbild und das religiös-wissen¬schaftliche Weltbild des kleinen Mönchs als positive Neuerungen sieht, die gegen die herrschende Ordnung Veränderungen hervorgerufen haben. Die negativen Seiten der Wissenschaft werden zwar als mögliche zukünf¬tige Gefahr dargestellt, nicht aber als die bereits herrschende Realität wenige Jahre später nach dem Abwurf der Atombombe. Zu erwähnen ist ebenfalls das Wissenschaftsbild der Frau Sarti, die jedoch im Verlauf des Buches umkommt (vgl. S.56). In einer Zeit, wo Wissenschaft erst gerade (wieder-)entdeckt wird, haben grosse Teile des gemeinen Volkes keine Ahnung von dem, was Wissenschaft ist und was sie alles aufdecken könnte. Zentral für. die Durchsetzung der Vernunft und der Wissenschaft ist, wie Galilei oft betont, dass gerade auch diese Leute die Wissenschaft mit ihren Anregungen kennenlernen.
Neben diesen Fragen um das Wesen der (Natur-)Wissenschaft stellen sich Brecht Fragen, die sich mit dem Phänomen des Hitlerregimes und seinen Greueltaten beschäftigen. Die katholische Kirche zu Zeiten Galileis wie auch Hitlers Regime sind totalitäre Machtsysteme, die auf Ungerechtigkeit basieren. Wie kommt es, dass ein ganzes Volk seinen Gerechtigkeitssinn, sprich seine Vernunft, verliert und sich nicht mehr wehrt? Wie
kann die Vernunft und der Widerstand gegen die Unvernunft wiedererweckt werden? Und viel tiefer: Wie sehr hat der Mensch sich die Vernunft überhaupt einverleibt, dass er diese so sehr zu verdrängen weiss? Galilei hat damals die Vernunft im Bereich der Wissenschaft zwar nicht sofort, dafür langfristig durchsetzen können. Mit dem Aufkommen von Hitlers Regime zeigt es sich, dass der damalige Siegeszug der Vernunft nun einen deutli¬chen Rückschlag erlitten hat. Die Ursachen dafür, dass sich Unvernunft (seitens der Unterdrückten) bzw. Ungerechtigkeit (seitens der Unterdrückenden) durchsetzt, sind sowohl in Hitlers Regime als auch zu Galileis Zeiten hauptsächlich machtpolitische Interessen (nebst der Kirche wendet sich auch Ludovico aus diesem Grund von der Wissenschaft ab, vgl. S.91192). Sich dagegen zu wehren ist Aufgabe des Volkes wie auch der Wissenschaft(-ler).
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