Einen Roman vollständig zu deuten ist sehr langwierig, deshalb will ich mich auf die wichtigsten Möglichkeiten, die sicher auch die interessantesten sind, beschränken.
Der Titel Radetzkymarsch scheint, zumindest nach der Inhaltsangabe keinen Bezug zum Text zu haben. Doch kommen im Roman drei Textstellen vor, die auf dieses Leitmotiv zurückgreifen.
1. Zu Beginn der Erzählung bedeutet das Erklingen des Radetzkymarsches, gespielt von der örtlichen Militärmusik, für den Knaben Carl Joseph Begeisterung für den Heldentod, den er für die Mitglieder des Kaiserhauses, die er in kindlicher Ergebenheit liebt, zu sterben bereit ist.
2. Als Leutnant kehren die Kindheitserinnerungen wieder als er einer Parade beiwohnt. Er denkt noch immer an die heilige Aufgabe und wünscht sich durch Hingabe seines Lebens für Kaiser und Vaterland ebenso ein Held zu werden, wie sein Großvater.
3. Traum und Wirklichkeit vermischen sich vollends als Carl Joseph den Radetzkymarsch zu hören glaubt, während er von den Feinden unter Beschuß genommen im Kugelhagel sein Leben läßt.
Diese drei Stellen, an denen der Radetzkymarsch erklingt, könnte man mit Aufbau-Bewahrung-
Zusammenbruch bezeichnen. Diese Dreiheit kommt in Roths Roman immer wieder vor. Genau so gut könnte man nämlich auch die Mitglieder der Familie Trotta damit beschreiben. Der Held von Solferino stünde für den Aufstieg seines Geschlechtes, der Bezirkshauptmann für die Bewahrung des Ruhmes und unter Carl Joseph erfolgte der Zusammenbruch. Auch aufgrund der Kapitelaufteilung, die dem Enkel am meisten, dem Großvater am wenigsten Platz einräumt, wird klar, daß das vorherrschende Thema Zusammenbruch und Verfall ist. In der Literaturwissenschaft bezeichnet man den Radetzkymarsch daher auch als Dekadenzroman.
Die Dekadenz, das heißt der Verfall, ist sowohl innerhalb der Familie Trotta als auch in der Monarchie als Staatengebilde unübersehbar. Die alte, feudale Gesellschaftsordnung steht einer neuen, dem Sozialismus gegenüber - und es ist unübersehbar daß die alte der neuen Platz machen muß. Ebenso ist es in der Familie Trotta, denn alle Charaktere, auch Carl Joseph, werden als alte, oder vorzeitig gealterte Personen gezeigt, die ihre Prinzipien und Weltanschauungen nicht mehr ändern wollen und können.
Die Vertreter des Sozialismus kommen in vielerlei Gestalt vor: seien es die streikenden Arbeiter oder die neuen Hausdiener, die dem Bezirkshauptmann v. Trotta allesamt nicht passen. Von Trotta ist nicht einmal bereit die Möglichkeit eines Umbruches in Betracht zu ziehen. So bessert er in seinen Protokollen stets die Worte "revolutionärer Agitator" in "verdächtiges Individuum" aus, da er fest überzeugt ist, daß es keine Revolution geben werde.
Das Symbol für die noch herrschende alte Ordnung und als Garant für deren Weiterbestehen ist der Kaiser. Franz Joseph, mit 68 Jahren Regierungszeit jener Monarch Mitteleuropas mit der längsten Amtszeit, verdeutlicht durch seine Greisenhaftigkeit die "alte" Zeit. Wenn Roth von ihm spricht, findet sich stets auch ein Bezug zu Gott. Ebenso wie Franz Josephs Untertanen ihrem Kaiser ergeben sind, sieht auch dieser Gott wie einen Vorgesetzten dem man zu gehorchen hat.
Historiker sind sich heute einig, daß der Bestand der Monarchie in den letzten Jahren allein durch eine dem Kaiserhaus ergebene Armee und ein pflichtbewußtes Beamtentum gesichert worden ist. Franz von Trotta repräsentiert dieses Beamtentum. Er ist ein altehrwürdiger Hauspatriarch und Anhänger der monarchistischen Weltordnung. Seine Identifikation und Loyalität zu Österreich geht so weit, daß er sich im Alter immer mehr dem Kaiser angleicht. Am Ende der Erzählung spricht Roth von "zwei Brüdern, von denen der eine Kaiser, der andere Bezirkshauptmann geworden war."
Carl Joseph wirkt hilflos und verloren. Der Verlust seines Freundes Max Demant und der Tod seiner ersten Geliebten, an der er Schuld trägt machen ihn zu einem gebrochenen und alten Mann, obwohl er noch jung ist. Stets fühlt er eine gewisse Todessehnsucht und tröstete sich mit Hochprozentigem. In der galizischen Grenzstadt sieht er den Untergang und Verfall noch schneller auf sich zukommen, als der Vater, der in Mähren wohnt.
Carl Joseph sieht sich vor allem als Enkel des Helden von Solferino. So schildert auch Roth in erstaunlicher Synchronität den Anfang und das Ende der Familie Trotta: die Heldentat des Großvaters und den kläglichen Tod des Enkels. Überhaupt zieht sich das Enkel-Motiv durch den gesamten Roman. Auch Max Demant, jener jüdische Intellektuelle, der wissend in seinen sinnlosen Tod gegangen ist und mich von allen Figuren am meisten beeindruckt hat, erzählt in einem Gespräch mit Carl Joseph von seinem Großvater. Ich möchte dazu ein Bild von Roths Großvater zeigen, der ja ebenfalls jüdisch war.
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