Sturm und Drangbr /
"Die Leiden des jungen Werthers" (1774)
Der zweiteilige, nicht umfangreiche Roman enthält im ersten Teil nur Briefe
Werthers an seinen Freund Wilhelm. Erst im zweiten Teil wird die Brieffolge
vereinzelt von Berichten des Herausgebers unterbrochen. Diese Art der
persönlich-sujektiven Schilderung wird "Ich-Erzählperspektive" genannt.
Durch sie erhält zwar der Leser Einblick in die intimste Ge-fühlswelt des
Schreibers, jedoch wird selten objektiv dargestellt, in welcher Beziehung
der Schreiber zu seinen Mitmenschen steht.
Werther ist einerseits ein hochbegabter Gefühlsmensch mit viel Liebe zur
Poesie, an-dererseits aber ohne Widerstandskraft gegenüber seinen
Stimmungen. Er lernt Lotte kennen und lieben, doch seine Liebe wird nicht
erwidert, denn sie ist mit Albert, einem braven Mann, verlobt. Eines Tages
verliert er alle Selbstbeherrschung und reißt Lotte leidenschaftlich in
seine Arme. Diese weist ihn jedoch zurück und flieht vor ihm. Weil Werther
nun erkennt, dass er mit Lotte nicht leben darf, und weil er glaubt, ohne
Lotte nicht leben zu können, erschießt er sich in der Nacht vor Weihnachten
des Jahres 1772. Er ist an Lotte, die nicht der Macht der Leidenschaft,
sondern der Konvention folgt, verzweifelt.
Goethe verarbeitet in diesem Brief-Roman, dessen Vorbild SAMUEL RICHARDSON
ist, seine unglückliche Liebe zu Charlotte Buff, den Selbstmord seines
Freundes Karl Wilhelm Jerusalem, der sich wegen einer ausweglosen Liebe
erschießt, und die Erfahrungen mit einer verheirateten Frau, in die er
verliebt war.
Goethe zeichnet im Roman die Selbstzerstörung eines edlen, aber
willensschwachen, emp-findungsseligen, innerlich und äußerlich vereinsamten
jungen Menschen, der zu seinem Un-glück von einer jungen Frau, die ihm nicht
gehören kann, Erlösung erhofft. Als Formmuster benützt Goethe die
psychologischen Briefromane Samuel Richardsons. Die Sprache ist un-gemein
ausdrucksstark und mannigfach abgestuft: Sie ist von erhabenem Schwung,
schlicht und einfach, leidenschaftlich und erregt, ruhig und milde und auf
jeden Fall hinreißend und anziehend.
Die Auswirkungen des Romans auf die Gesellschaft waren gewaltig. Die
sogenannte "Werther-Tracht" wurde zur Mode und unglücklich Liebende holten
sich vor ihrem Selbst-mord in der Lektüre des "Werther" den Mut zu ihrer
Handlung.
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