Roman in drei Teilen von Ödön von Horváth, er¬schienen 1930. - Mit Ironie begegnet Horváth der durch den Untertitel Erbaulicher Roman geweckten Erwartung des Lesers, auf einen mit diesem Gattungsbegriff bezeichneten Text zu treffen. Denn ebenso wenig wie das Erzählte in der Tradition der Erbauungsliteratur steht, lässt sich die Darstellung mit dem Typus des Bildungsromans in Verbin¬dung bringen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Wenn Kobler am Ende seiner "Bildungsreise" nach Hause zurückkehrt, hat er nichts dazugelernt. Desillusionierung bezeichnet den Ausgang einer Ent¬wicklung, die mit "seelischer Reifung" und Cha¬rakterbildung nichts zu tun hat.
Im ersten Teil des Romans begleitet der Erzähler Alfons Kobler aus München zur Weltausstellung nach Barcelona 1929. Dem vorgeblichen Interesse an der Weltausstellung liegt das berechnende Vorhaben Koblers zugrunde, eine reiche Dame kennen zu lernen, sie zu "kompromittieren" und dadurch zur Ehe zu zwingen. Auf diese Weise spe¬kuliert Kobler auf eine finanziell abgesicherte Zukunft. Als Startkapital setzt der skrupellose Ge¬schäftemacher den Gewinn eines betrügerischen Autoverkaufs ein. Während der langen Bahnfahrt kommt es zu zahlreichen Begegnungen, mit denen Horváth das Thema des Romans - die Charakteri¬sierung des Spießers - facettenreich entwickelt. Vor allem in der Gegenüberstellung von Kobler und Schmitz, einem Wiener Schmierenjournali¬sten, der Kobler ab Verona begleitet, kann der Au¬tor unterschiedliche Erscheinungs¬formen des Spießers sichtbar machen. Der im Gegensatz zu Kobler scheinbar gebildetere und sich weltmännisch ge¬bende Schmitz bildet ein Beispiel für die von Horváth als charakteristisch erkannte Eigenschaft des Spießers, "jede neue Formulierung der Idee zu verfäl¬schen, indem er sie sich aneignet". In verschwommenen Thesen predigt Schmitz dem ebenso egoistisch mit eigenen Gedanken beschäftigten Kobler von einem "vereinten Europa". Bei einem Ausflug ins Bordellviertel von Marseille kontrastiert Horváth die zu leeren Phrasen verkommenen Appelle Schmitz zur Versöhnung der Völker mit dem Völ¬kergemisch von Einheimischen und Emigranten in Marseille. Während der Zug die Reisenden ihrem Ziel immer näher bringt, sieht Kobler sein weitge¬stecktes Ziel bereits gefährdet, als er doch noch eine vermögend aussehende junge Dame kennen lernt, die sich als reiche Industriellentochter aus dem Ruhrgebiet vorstellt und ebenfalls nach Barcelona fährt. Kobler macht sich an die Dame heran, folgt ihr in ein teures Hotel und gibt mit vollen Händen Geld aus, um ihr zu imponieren. Nach gemeinsam verbrachter Nacht erklärt die Dame am anderen Tag, ihr Verlobter, ein amerikanischer Millionär, würde früher als erwartet in Barcelona eintreffen, so dass sie sich nicht mehr mit Kobler treffen könne. Enttäuscht und fast bankrott fährt Kobler zurück nach München.
Im zweiten Teil des Romans - mit dem ersten nur lose verknüpft - interessiert sich Horváth für das Schicksal Anna Pollingers, einer Bekannten Kob¬lers. Infolge der sich verschlechternden wirtschaft¬lichen Konjunktur Ende der zwanziger Jahre wird das Bürofräulein Anna von einem Tag auf den an¬deren arbeitslos. Der "wohlmeinende" Rat eines Bekannten vermittelt die ahnungslose Anna als Malermodell, in dem der Künstler und seine Freunde die leicht zu habende Dirne sehen. Zur Prostituierten abgesunken, begegnet Anna im drit¬ten und letzten Teil des Romans einem "guten Menschen", der ihr zu einer Stelle in ihrem erlern¬ten Beruf als Näherin verhilft. In den knappen Skiz¬zen, die das Schicksal der Anna Pollinger umreißen, variiert Horváth ein Motiv, das in seinen Bühnen¬stücken wie in seiner Prosa immer wieder vor¬kommt und dem ein besonderes Interesse des Au¬tors gilt. Es ist das Schicksal des Mädchens, das durch wirtschaftliche Not auf Abwege gerät und zum Opfer nicht zuletzt männlich egoistischer An¬sprüche wird.
In seiner Skizzenhaftigkeit lässt der Roman die ihm zugrundeliegende Arbeitsweise Horváths und sei¬nen Entstehungsprozess noch gut erkennen: Nicht der kontinuierliche Aufbau einer fortlaufenden Ge¬schichte bildet das Kompositionsprinzip, sondern die lockere Fügung aus einzelnen Texteinheiten, die oft assoziativ aneinandergereiht sind, so dass sich ein summarisch Ganzes aus kleinen Geschich¬ten, Anekdoten, Situationen und Einzelbeobach¬tungen ergibt. Was die Erzählfiguren miteinander verbindet, das sind die schicksalhaft erlebten be¬sonderen Zeitumstände. Alle sind mehr oder weni¬ger Opfer des Ersten Weltkrieges und seiner Fol¬gen mit Wirtschaftskrise, Inflation und Massenar¬beitslosigkeit - gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg grundlegend veränderte Gesetzmäßig¬keiten. Dass diese neue Zeit auch einen "neue(n) Typ des Spießers" hervorbringen müsse, wie es Horváth im Vorwort zu seinem Roman annimmt, zeigt der Autor gleich an mehreren Beispielen. Insbeson¬dere im Aufeinandertreffen von Schmitz und Kob¬ler, aber auch in den bis zur Karikatur stilisierten Randfiguren kristallisiert sich der "neue Typ des Spießers" heraus: Gesellschaftlich anzusiedeln ist er im Mittelstand, halb verbürgerlichter Aufsteiger ehemals proletarischer Herkunft. Er ist ein Großmaul mit Imponiergehabe, dabei im Innern seines Wesens feige und opportunistisch nur auf seinen Vorteil bedacht. Skrupellos, dumm, ohne erken¬nendes Bewusstsein gegenüber der politisch-gesellschaftlichen Situation seiner Zeit wirft er dennoch mit ihren Ideen um sich, die als abgegriffene Phra¬sen oder verzerrte Bildungsklischees aus seinem Munde kommen.
Indem Horváth als Erzähler oft ganz hinter das Ge¬schehen zurücktritt und die Figuren für sich selbst sprechen lässt, erreicht er zwar szenische Unmittel¬barkeit, aber die nicht immer zu erkennende objektivierende Distanz lässt den Eindruck zu, der Autor gehe mit der Sprache seiner Figuren, d. h. mit den Phrasen, Stilbrüchen und "kitschigen Entgleisun¬gen" (H. Karasek), die er ihnen in den Mund legt, allzu unreflektiert um. Horváth selber hat darauf hingewiesen, dass er in der Art, wie seine Figuren sprechen, die Sprache von "heutige(n) Menschen aus dem Volke" erkennt, die sich eines "verzerrten" Bildungsjargons bedienen. Das "Unliteratische, be¬tont Naive" (B. v. Wiese) täuscht leicht darüber hinweg, dass der Autor seine Kunstmittel sehr bewusst eingesetzt und eine "Poetisierung" mit Absicht ver¬mieden hat.
Was den Roman auszeichnet, ist die erstaunliche Hellsichtigkeit, mit der Horváth erkennt, dass das politische Bewusstsein des Kleinbürgers nach rechts tendiert und der "neue Typ des Spießers" der zukünftige Mitläufer oder überzeugte Nationalso¬zialist ist.
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