Dürrenmatt stellt im Besuch der alten Dame zwei Welten dar, zum einen die der Claire Zachanassian. Sie mußte in Schande ihre Heimatstadt Güllen verlassen, weil Alfred Ill ihr die Vaterschaft leugnete und mit zwei bestochenen Zeugen den Richter täuschte. Sie wird zur Milliardärin und hat nur noch einen Wunsch: Die ihr in Güllen angetane Ungerechtigkeit zu rächen. Für die Verwirklichung dieser Sehnsucht tut sie alles. Menschen sind für sie nur käufliche Ware. Deutlich wird dies an der Titulierung ihrer Umwelt. Ihre Gatten, die sie ständig wechselt, nennt sie Moby, Hoby und Zoby, ihren Kammerdiener, den ehemalige Richter, der von Ill betrogen wurde, nennt sie Boby. Koby und Loby sind die beiden Zeugen, und Toby und Roby nennt sie die beiden kaugummikauenden Sänftenträger
Die alte Dame ist unerbittlich, ihr Haß gegen Ill und ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit sind so groß, daß sie darüber hinaus alles andere vergißt. Indem sie die Liegenschaften Güllens aufkauft, gewinnt sie die totale wirtschaftliche Macht über die Bürger des Dorfes.
Die eine Handlungsebene des Stückes wird von Claire Zachanassian repräsentiert und ist voll und ganz auf den Mord an Ill und ihre damit verbundene Rache gerichtet.
Die andere Handlungsebene wird von den Bürgern repräsentiert, die sich den eigenen Wohlstand auf die Fahnen geschrieben haben. Ihnen geht es um Wohlstand um jeden Preis, einzig am Beginn wird der Aspekt der Humanität höher bewertet. (S. 50) DER BÜRGERMEISTER: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.
Als jedoch kein Ausweg mehr bleibt, wird der zunächst inhumane Tötungsakt als einzige gerechte Tat umdefiniert. Ich bin der Ansicht, daß das Stück gerade deshalb so erfolgreich war (ist), da es sich auf jede Zeit beliebig übertragen läßt. Man findet bereits am Anfang, wo die Personen genannt werden, eine Zeitangabe: Gegenwart. Dies sagt eindeutig aus, daß es sich bei diesem Stück um ein Modell handelt, das sich mühelos übertragen läßt (siehe auch Andorra). Dies wird auch noch dadurch verstärkt, daß in dem gesamten Stück keine Währung genannt wird. Es wird nur von einer Milliarde gesprochen, aber nie von einer Währung. Die Grundaussage des Stückes ist ziemlich einfach: Jeder Mensch ist käuflich, es kommt nur auf die Summe an. Dies wird z.B. auch in der Szene deutlich, in der der Bürgermeister das Angebot der Frau Zachanassian ablehnt.
Ihre einzige Reaktion auf diese Ablehnung ist die Aussage: \"Ich kann warten.\"
Alles in allem finde ich das Stück, dem man auch eine gewisse Übertragbarkeit auf den Nationalsozialismus nicht absprechen kann, sehr gut. Die Kritik am Nationalsozialismus sehe ich dahingehend, daß den Menschen (hier den Bürger) keine Schuld trifft. Niemand hat Alfred Ill getötet; sondern das Kollektiv. Folglich kann auch keiner für seine Handlung bestraft werden, und es wird unmöglich, einen Schuldigen zu finden.
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