Seit der Mitte der zwanziger Jahre beschäftigte sich Brecht mit dem
Kreidekreisstoff. Zweifellos gehörte das Motiv des weisen Richters, der den
Streit zweier Frauen um ein Kind im Sinne der wahren Mutter entscheidet, für
ihn zu den dramatischen Grundkonstellationen. Wohl hat ihm die Erfahrung
der abendländisch gefärbten Nachdichtung des chinesischen Singspiels von Li
Hsingtao durch den ihm befreundeten Klabund auf die Bedeutung dieser Szene
gestoßen. Er griff die Fabel zunächst im Lustspiel "Mann ist Mann" auf. Er
verwendete sie weiters im "Odenseer Kreidekreis" sowie im "Augsburger
Kreidekreis" der als Vorläufer des kaukasischen Kreidekreises gesehen
werden kann.
Brecht schrieb das Stück in den USA, somit wurde es 1948 in Northfield
(Minn.) uraufgeführt. Als Brecht nach Ost-Berlin zurückkehrte mußte er
seinem Stück erst den Weg ebnen.1954 war die erste Aufführung in
deut.Sprache, seinen Durchbruch erlangte das Werk allerdings durch die von
Brecht selber eingerichteten Inszenierung beim Internationalen Pariser
Theaterfestival 1955.
Das grusinische Kreidekreis-Spiel beruht auf Fiktion. Der gesamte
theatralische Vorgang ist Vortrag des Sängers. Denn was der Sänger vorträgt
wird in der szenischen Demonstration zum Spiel im Spiel.
Bewußt vom Blickpunkt eines Berichterstatters her entfaltet der Sänger das
Geschehen.-> der Erzähler vermittelt das Drama (Paradefall des epischen
Theaters)Der Status des Künstlers gibt ihm eine Sonderstellung. Er ist
nicht nur Spielleiter sondern führt in die Handlungen sowie Gedanken
einzelner Personen ein. Genauso wichtig sind auch seine Kommentare und
Folgerungen. Gewiß nicht zufällig hat er auch im Stück das letzte Wort. Mit
Bedacht gibt Brecht seinem Publikum durch den Sänger zu versehen, daß für
die Kunst andere Maßstäbe gelten. So müssen sich die zur Diskussion
angereisten Kolchosmitglieder mit zwei Zeitkategorien anfreunden.
Während ihnen einerseits die Rede beschnitten wird ("beim Aufbau müssen alle
Vergnügungen rationiert werden ... die Diskussion auch"), widerfährt ihnen
strikte Ablehnung bei ihrer Frage, ob der Vortrag des Sängers nicht rascher
abgewickelt werden könne. Anscheinend geht es dem Autor darum die Erwartung
des Publikums umzulenken ,er spricht den Anspruch aus, die Kunst als einen
Produktivfaktor besonderer Art zu würdigen. Brecht zeigt hier sein
künstlerisches Prinzip: eine Synthese von Ausdruckswert und "Gebrauchswert".
Seine Denkmodelle zielen allerdings nicht auf die Realität ab, sondern auf
das noch nicht Vorhandene, das aber noch Herzustellende. Mit Hilfe seines
epischen Zeigetheaters versucht er eingreifendes Denken zu vermitteln. Nur
die auf den historischen Prozeß bezogene Utopie hat Chancen zu polit.
Wirkung zu kommen. Es geht ihm um die Gestaltung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens in der Zukunft. Somit legt er es darauf an den Sinn der
sozialistischen Gesellschaft spielerisch zu entwickeln. Beispielhaft ist
der "Garten des Azdak".
Er demonstriert hier eine sozialistische Forderung und Herausforderung. Wie
zur Verdeutlichung verheißt die Agronomin den Ältesten des Ziegenkolchos "Du
wirst einen Garten sehen" und bekommt die Antwort "Gnade euch Gott, wenn es
nicht ein Garten ist". Der Garten ist hier Utopie-Sinnbild einer
freundlicheren Welt welche realisiert werden soll. Da das Vorspiel des
Kreidekreises in der Sowjetrepublik spielt, dürfte es Brechts Absicht
gewesen sein, das utopische Bild mit einem "historischen, erklärenden
Hintergrund" zu versehen, und es in der Realität der (damals) aktuellen Zeit
zu verankern.
Er konnte dies nur mit dem Verweis auf die sozialistische Praxis machen. Er
tat dies mit dem produktiv gelösten Streit um das Tal, das denen
zugesprochen wird die es am intensivsten nutzen. Während im Hauptteil ein
glücklicher Zufall im Mittelpunkt steht, sucht das Vorspiel nach
gesellschaftlichen Erfordernissen. Insofern beschreibt Brecht den
qualitativen Sprung vom Zufall zur Notwendigkeit.
Das Bild des Aufbaus sollte einerseits ein Exempel des wahren Sozialismus
statuieren (Sozialismus als historische Vernunft,aufbauende Kraft),sowie
auf die deutsche Situation beim Wiederaufbau aufmerksam machen.
Das Stück wurde aus diesem Grund unterschiedlich aufgefaßt: aus der
Sowjetunion kamen Einwände wegen "mangelnden realistischen Gehalts"; vom
Westen wurde das "bolschewistische Einwickelpapier" zerrissen. So kam es
auch, daß bei der westdeutschen Erstaufführung 1955 das Vorspiel weggelassen
wurde. Selbst Peter Suhrkamp wollte das Vorspiel bei der Druckfassung
weglassen.Es lag ihm also viel daran dem Publikum die Art der Erledigung des
Streites als produktive Haltung nahezulegen.
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