Der Clavigo wurde innerhalb von nur acht Tagen im Mai 1774 geschrieben, nur kurz nach der Fertigstellung des Werther. Den Stoff für das Stück bezog Goethe aus dem gerade erschienenen vierten Teil der Memoiren des Beaumarchais, der unter anderem auch die bedeutenden Komödien Der Barbier von Sevilla (1775) und Die Hochzeit des Figaro (1784) geschrieben hatte. Beaumarchais schildert hier die Gründe seiner Reise nach Spanien. Er wollte für seine Schwester von dem Archivar und Journalisten Clavijo y Fajardo eine Ehrerklärung abpressen, die die Gründe für sein gebrochenes Eheversprechen darlegen.
Beaumarchais selbst hat das Stück noch 1774 in Augsburg gesehen, die Premiere war kurz zuvor in Hamburg. Auch Clavijo y Fajardo scheint das Stück zumindest gelesen zu haben,
da er noch Jahre später mit Freunden über seinen theatralischen Tod gesprochen haben soll, so Walter Henze in seinem Buch über den jungen Goethe.1
Das Stück selbst ist wieder in Einheit von Zeit, Ort und Handlung geschrieben.
Trotzdem lebt das Stück von seinen Gegensätzen und vor allem von den polaren Charakteren, die eine Art Grundmotiv in Goethes Dramen darstellen.
Gleich am Anfang des ersten Aktes lernen wir Clavigo als nach Macht, Ruhm und Einfluss strebenden Menschen kennen. < Ich wäre nichts, wenn ich bliebe, was ich bin!
Hinauf! Hinauf! Und da kostet´s Mühe und List! Man braucht seinen ganzen Kopf;
Und die Weiber, die Weiber! Man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen.> ( vergl. S.6 ).
Carlos, sein Freund bestärkt ihn in dieser Ansicht und doch kommt auch sein wankelmütiges Wesen zum Vorschein, denn kurz darauf sagt er, < Ich kann die Erinnerung nicht loswerden, dass ich Marien verlassen - hintergangen habe, nenn´s wie du willst.> Ebenfalls im ersten Akt kommt Beaumarchais, Maries Bruder, im Hause Guilberts, des Schwagers an, mit dem Vorsatz den Verrat an Marie zu rächen.
Im zweiten Akt schreitet er nun zur Tat. Er besucht Clavigo unter einem Vorwand und gibt sich erst später zu erkennen.
Beaumarchais will hier von Clavigo eine Erklärung abtrotzen und erhält sie auch unter der Bedingung, dass er ein gutes Wort für Clavigo bei Marie einlegen wird.
Denn Clavigo, der Marie scheinbar doch liebt, will sein Eheversprechen nun einhalten.
1 Walter Henze, Johann Wolfgang von Goethe, Band 1,Von den Anfängen bis zum Tasso,Velber,1974, S. 125
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Im dritten Akt besucht Clavigo Marie um ihr Herz zurückzugewinnen und nach anfänglichem Zögern erhört sie ihn abermals.
Der vierte Akt ist nun das Gegenstück zum zweiten Akt, Clavigo wird hier stark von Carlos beeinflusst, der ihm die negativen Konsequenzen dieser Verbindung eindringlich darstellt. Gemeinsam planen sie nun den erneuten Meineid und Verrat an Marie.
Am Ende dieses Aktes erhält Beaumarchais ein Schreiben, indem er angeklagt wird, Clavigo, den Archivarius des Königs im Bette bedroht zu haben. Auf diesen neuerlichen
Meineid reagiert Marie so geschockt und verzweifelt, dass sie stirbt.
Im letzten Akt, als Clavigo zu Don Carlos eilt und er an Mariens Haus vorbeikommt,
sieht er den Leichenzug und wird sich seiner Tat bewusst. Kurze Zeit später kämpft er mit Beaumarchais, der ihm mit dem Degen einen tödlichen Hieb versetzt.
Clavigo stirbt reumütig über Mariens Sarg und bittet um Vergebung, ja er will sogar seinem Mörder zur Flucht verhelfen und nötigt dem herbeigeeilten Carlos das Versprechen ab, zu helfen.
Schon im Aufbau des Stückes zeigt sich in welchem Zwiespalt Clavigo steckt und auch wie beeinflussbar er ist. Einerseits ist er getrieben von dem Drang nach Ungebundenheit und Größe, andererseits sehnt er sich nach der Liebe und dem Glück dieser Beziehung.
Genau diesen beiden Polen von Clavigos Innerstem geben Carlos und Beaumarchais Ausdruck. Carlos ist ein strikt vernünftiger, klardenkender, vielleicht sogar berechnender Mensch. Er ist es, der dem schwankenden Clavigo diese Verbindung abermals ausredet.
Frauen, besonders Ehefrauen, stellt er als nützliches Beiwerk dar, die entweder durch ihre Schönheit den Mann schmücken oder durch ihre Stellung die Macht des Ehemanns legitimieren. Ansonsten seien sie nur für Affären gut.
Auffällig ist auch, dass die Frauen im Clavigo nur die Leidenden, zur Passivität verurteilten sind. Gehandelt wird nur von den Männern.
Carlos bringt es auf den Punkt,< Hier liegen zwei Vorschläge auf gleichen Schalen.
Entweder du heiratest Marien und findest dein Glück in einem stillen bürgerlichen Leben,
in den ruhigen häuslichen Freuden; oder du führest auf der ehrenvollen Bahn deinen Lauf weiter nach dem nahen Ziele.> ( S. 43, Z. 10 ff )
Carlos intrigiert hier nicht, er erzwingt nur eine Entscheidung, die nach heutigem Maßstab nur allzu normal ist, die Frage zwischen Familie und Karriere.
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Hier zeigt sich auch wieder Goethes Hang zum Individualismus, der die Frage nach der Selbstverwirklichung des Ich außerhalb von bürgerlich, moralischen Grenzen stellt. Den Gegenpol hierzu bildet Beaumarchais, der Clavigo wieder zur Vernunft bringen will, zumindest aber die Ehre seiner Schwester wiederherstellen.
Als er vom Bruch des Eheversprechens hört, eilt er sofort von Frankreich nach Spanien um Clavigo zur Rede zu stellen. Ganz nach den Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral, soll Clavigo die Ehrenhaftigkeit Mariens öffentlich und schriftlich darlegen.
Clavigo, der geniale Schriftsteller und Archivarius des Königs, scheint hier vollkommen überfordert zu sein.
Im Faust kommt dieses Bild später noch einmal zum Tragen, wenn Faust nämlich fragt,:
< Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft ? >. (Faust, Vers 2724 )
Auch hier wird der äußere Einfluss sichtbar, dem auch der exeptionelle Mensch unterworfen sein kann.
Clavigo schwankt also sichtbar zwischen diesen beiden Kontrastfiguren.
Im zweiten Akt muss er sich dem energischen Auftreten Beaumarchais beugen, an dessen Ende er zu Marie zurückkehren will und im vierten Akt passiert das genaue Gegenteil,
er muss sich den starken Argumenten seines Freundes Carlos beugen und beschließt den erneuten Meineid um seine Karriere zu retten.
Der sehr kurze fünfte Akt hat eine Sonderstellung im Drama, es ist der einzige, der außerhalb der Wohnungen der beiden Parteien und bei Nacht spielt.
In diesem Akt treten schließlich auch die Worte hinter der großen Gestik dieses Aktes zurück. Clavigo versöhnt sich sterbend mit Beaumarchais und ist im Tode mit Marie vereint.
Generell bedient sich das Stück vieler großer Gefühlsausdrücke. Dieser Herzton kam schon kurz vorher im Werther zum Ausdruck und doch ist dieses Werk vollkommen anders, da es wieder in der geschlossenen Form und in einem gefühlvollen Stil dicht an der Empfindsamkeit geschrieben wurde. Das Interesse für diesen Stoff und die Schnelligkeit mit der Goethe dieses Drama geschrieben hat, ist wahrscheinlich daher zu erklären, dass er selbst noch Schuldgefühle gegenüber Friederike Brion, der Pfarrerstochter aus Straßburg, hat, die er selbst
damals sitzen ließ. Er kann hier seine eigensten Gefühle ausdrücken und sogar die Motive dieser Tat als nicht allzu unehrenhaft erscheinen lassen.
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Goethe selbst schreibt in Dichtung und Wahrheit ( 12. Buch ) < [...] zu der Zeit, als der Schmerz über Friederikens Lage mich beängstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals Hülfe bei der Dichtkunst. Ich setzt die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden.
Die beiden Marien in >Götz von Berlichingen< und >Clavigo< und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen [Weislingen, Clavigo], möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.>
Goethe versuchte also sich durch das Schreiben dieser Dramen von seiner Schuld zu befreien und vielleicht sogar die Motive für sein eigenes Handeln darzulegen.
Clavigos Motive sind ja durchaus respektabel, ganz in aufklärerischem Sinn, will er als Schriftsteller zur Geschmacks- und Meinungsbildung beitragen.
Die Titelgestalt und auch das ganze Stück selbst sind gekennzeichnet durch einen inneren Zwiespalt des bestimmbaren Menschen, also zwischen dem was das Gefühl, das Herz ihm sagt und dem was er für vernünftig erachtet.
Dieses Schwanken wird gerade durch die äußeren Einflüsse verstärkt und sichtbar gemacht.
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