Gretchen ist ein wohlanständiges (V.2611), naives, liebes, religiöses und sehr gottesfürchtiges Mädchen. Sie neigt dazu, recht negativ über die eigene Person zu denken und sich bei jeder Gelegenheit zu kritisieren, bzw. herabzusetzen (V.2607 "Bin weder Fräulein, weder schön/"). Sie beweist Willensstärke, die sich durch die "Abweisung" Fausts deutlich macht (V.2608 "Kann ungeleit nach Hause gehen/"). Auch während dem ersten Aufeinandertreffen mit Faust im Garten der Nachbarin Marthe kritisiert Gretchen sich fortwährend (V.3078 ff.) und kann nicht verstehen, was ein Mann wie Faust mit hohem Stande etwas an ihr finden kann ("Ich weiß zu gut, dass solchen Mann, mein arm Gespräch nicht unterhalten kann"; Vgl. V. 3215 "Bin doch ein arm unwissend Kind, Begreife nicht, was er an mir find't."). Gretchens Gläubigkeit und Unschuld kristallisiert sich vor allem anhand eines Zitats Mephistos heraus: V.2625 "Es ist gar ein unschuldig Ding, das eben für nichts zur Beichte ging/"; das besagt, dass Gretchen in solch einem Maße gottesfürchtig sei, dass sie wegen nichts zu Beichte gehe. Ihre Naivität bzw. Leichtgläubigkeit nimmt im Gespräch mit Marthe und Mephisto Konturen an (V.2941), als Mephisto über den vermeintlich toten Ehemann Marthes spricht und diesen als sehr reuig darstellt (Reaktion Gretchens V. 2941 "Ach, dass Menschen so unglücklich sind! Gewiss, ich will für ihn in manchem Requiem noch beten"). Gretchens innere Ruhe und Ordnung oder auch Sittlichkeit wird durch die erste Begegnung mit Faust erschüttert ("Ich gäb was drum, wenn ich nur wüsst, wer heut der Herr gewesen ist"), da sie Gedanken an einen Mann "verschwendet". Durch ihre Reinheit und Gläubigkeit wird Gretchen zu Mephistos "Gegenspielerin" - dies wird erstmals in Vers 2755ff. deutlich, als sie nach Hause kommt und bemerkt, dass jemand in ihrem Zimmer war, der jedoch nicht in "ihre" Welt gehört und wessen Anwesenheit sie erschauern lässt ("Es wird mir so, ich weiß nicht wie - (.) - Mir läuft ein Schauer übern ganzen Leib/").
In Vers 2795 bildet sich erneut Gretchens Unzufriedenheit mit ihrem Stande heraus (vorher V. 2607 "Bin weder Fräulein/", da die Anrede Fräulein wohl vorwiegend in den "gehobeneren" Kreisen verwendet wird), als sie den Schmuck (das Geschenk Fausts) erblickt ("Wem mag diese Herrlichkeit gehören? (.) Nach Golde drängt (.) Ach wir Armen!"), durch welchen sie sich einen sozialen Aufstieg erhofft. Durch ihre "Standeskritik" wird Fausts zuvor aufgestellte Behauptung zerstört (Vgl. V. 2691-2694), dass Gretchen voll Zufriedenheit und Ruhe sei. Nachdem Gretchen nun das herrliche Geschenk erhalten hat, kann sie nicht mehr aufhören, an den Überbringer zu denken (V. 2851ff.), was wiederum ihren Wunsch nach dem sozialen Aufstieg belegt. Auch im Vers 3078 ff. und Vers 3123 f. weist Gretchen erneut auf die Standesunterschiede hin. In Vers 3206 gesteht Gretchen zum ersten Mal Faust ihre Liebe (welcher ihr schon in der vorhergehenden Szene "Garten" seine Liebe gestanden hat Vgl. V. 3184f). Es wird erneut die Problematik des Standesunterschiedes deutlich, da das Gartenhäuschen der einzige Ort ist, an welchem die Beiden sich wie zwei Verliebte verhalten können, da sie dies nicht in der Gesellschaft publik machen können. Nachdem Faust das "Liebesnest" der Beiden verlassen hat, wird im Gespräch mit Marthe Gretchens Willenlosigkeit gegenüber Faust merklich, (V. 3211 ff "Du lieber Gott! (.) Beschämt nur steh ich vor ihm da, und sag zu allen Sachen ja") bzw. wie stark ihre Gefühle für ihn sind.
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