Schon einige Male war vom "Wahn" des Leutnant Burda die Rede und davon, wie der Ich-Erzähler immer mehr in diesen Dunstkreis hineingezogen wird. Das Fortschreiten von Burdas Wahnvorstellungen und die Reaktionen des Erzählers wurden schon eingehend dargestellt; nun interessieren uns aber die Hintergründe für diesen "Wahn" und auch, was der Erzähler, der in der Forschung oft als "melancholisch" dargestellt wird, damit zu tun hat.
Nach Wolfgang Müller-Funk liegt die Heroik des Melancholikers in dem "inneren Zwiespalt von Bedürfnis und Befriedigung". "Schmerz als Sinn des Daseins und als seine Erfüllung". Saars Dichtung spricht seiner Meinung nach eine kollektive Gefühlslage aus: die Melancholie eines ganzen Staatswesens. In seiner historisch-soziologischen Untersuchung Melancholie und Gesellschaft versuchte Wolf Lepenies, gesellschaftliche Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, die ein massives Auftreten von Melancholie hervorrzurufen vermögen. Einige davon sind "Handlungsohnmächtigkeit, Resignation, Machtverlust, politische Niederlagen, fehlender gesellschaftlicher Aktionsradius". Melancholie definiert er als "Verweigerung ohne positive Alternative".
Im Falle Österreichs ist wohl seit 1848 ein Schwund revolutionären Elans zu konstatieren. Der Weg führte von den Barrikaden direkt in den kleinen Kreis des kultivierten Gesprächs wo sentimentale historische Reminiszenzen zweimal die verpasste Möglichkeit eines liberalen Österreichs durchschimmern lassen: Im Josephinismus und im Revolutionsjahr 1848. Die Häufigkeit und Beobachtung dieser Phänomene lassen Melancholie als konstitutives Element modernder Welterfahrung und moderner Dichtung erscheinen und unter diesem Gesichtspunkt scheinen Saars "traurige" Geschichten und seine "traurigen" Gestalten eine Brücke zur Moderne zu sein.
Handlungsverzicht, Leidensbereitschaft und desillusioniertes Bewusstsein ermöglichen laut Müller-Funk die unbedingte Teilnahme, die "hinnimmt und jegliche Hoffnung verabschiedet". Und so werden dem "traurig-wissenden Erzähler, Zuhörer und Beobachter" - stellvertretend für den Leser - die tragischen Lebensbeichten vorgetragen. Er analysiert nicht, sondern "malt seelische Aquarelle, die [...] den Optimismus des Lesers sanft [...] erschüttern".
Aber nicht nur der Erzähler, auch Burda ist Melancholiker. Er wird in der Forschung oft als "Don Quixote" dargestellt und der Erzähler selbst erwähnt seine "melancholische Würde" (6,8 f.). Burda kämpft aber nicht für Tugenden und Ideale, er will keine Gesellschaft durch seine Konfrontation verbessern. Idealistisches und Inhalte treten in seinem Fall zu Gunsten der Art und Weise, wie Wirklichkeit wahrgenommen und verarbeitet wird, in den Hintergrund.
Burda befindet sich in einem Zwiespalt zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Er leidet er aber nicht darunter, da er sich seine Wirklichkeit selbst zurechtbiegt. "Selbsteinschätzung, Vorstellung und Projektion" sind für ihn "Wirklichkeiten [...], die sein Handeln und [...] seinen Lebensweg entscheidend prägen".
Diese "große persönliche Schwäche" trennt Burda fortan von der Realität seines Lebens, die er nicht anerkennt. Er baut eine undurchdringliche Scheinwelt auf, die ihm zum Verhängnis wird. In den Augen Burdas gehen seine Wünsche in Erfüllung, nicht aber in den Augen seiner Umwelt, die durch seinen Freund, den Erzähler, repräsentiert wird. Einwände und Zweifel kann Burda mühelos widerlegen, "das Gesetz der Kausalität eröffnet beliebig viele Kombinationsmöglichkeiten".
Je mehr nun Wunsch und Realität auseinanderklaffen, um so mehr verdichtet sich der "Wahnsinn" Leutnant Burdas. In seinem Vortrag Wahn führt Theodor Meynert den Wahn auf ein Versagen logischer Gehirnoperationen zurück und deutet ihn im Sinne eines "Überhandnehmens von Nebenassoziationen". Im Falle Burdas ist damit seine durch den Willen gesteuerte Wahrnehmung zu verstehen, die "selektiv Angenehmes beobachtet, Unangenehmes verdrängt, damit aber immer mehr den Bezug zur Realität verliert".
Geht es um angenehme Ereignisse, verfällt Burda in einen Beachtungswahn, etwa wenn er glaubt, die Prinzessin trage ein gelbes Kleid, weil Gelb die Farbe seines Siegels am Gedicht war (27,18 ff.). Geht es hingegen um unangenehme Ereignisse, verfällt er in einen Verfolgungswahn. So bezeichnet er zum Beispiel die Ablehnung seiner Bewerbung als Intrige (74,10). Burdas Abstammungswahn, in dem er sich bemüht, einen Geburtsadel nachzuweisen (32,11 ff.), kann als Größenwahn gedeutet werden.
In jedem Fall verliert Burda den Bezug zur Realität und dadurch auch die Gewalt über sein Leben und Tun.
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