1951 starb Kästners Mutter an geistiger Umnachtung. Sie konnte es nicht verkraften, daß sie keine Post mehr erhielt. Das Wäscheband war gerissen. Kästners Vater sollte sie noch zehn Jahre überleben. Kurz vor seinem Tod besuchte er noch seinen Sohn in München und verstand, warum er nicht mehr nach Hause zurückkehren wollte.
Nach seinem Umzug nach Herzogenpark fragte ihn ein Schriftsteller: "Was täte ein satirischer Schriftsteller, wenn er im Paradies lebte?" und er antwortete darauf: "Dann wäre seine Existenz grundsätzlich bedroht! Denn was täte er ohne die Dummheit und Bosheit der Menschen? Was finge er an, wenn ihm die Gesellschaft, der Staat, die Welt kein Ärgernis böten? Würde und könnte er, kurz gesagt, im Paradies überhaupt noch schreiben?" Und was tat der Satiriker Kästner, als er sich ungewollt und unvermutet am Rande des Paradieses ansiedeln mußte? Er griff zur Harfe, die Schönheit der Natur und ihren Rhythmus zu preisen. Dies war keine Wandlung, sondern nur ein romantischer Ausflug. In diese Ruhe hinein schrieb er die bittere politische Satyre "Die Schule der Diktatoren". Dies war ein direkter Nachkomme seiner ersten Lyrikbände und des Fabian.
Ein Jahr nach "Der Schule der Diktatoren", erschien das autobiographische Buch "Als ich ein kleiner Junge war". Es ist von ergreifender Ehrlichkeit.
Doch so unterschiedlich Kästners Themen sind, o einheitlich ist sein Stil.
Als Thornton Wilder ihn kennenlernte, rief er vergnügt: "He looks like his books and his books look like him" und nach längerer Bekanntschaft schrieb Wilder an ihn: " I know six Kästners. Do the six Erich Kästners know another?"
Darauf antwortete Kästner: "Sie kennen sich, sie schauen einander in die Karten. Aber kiebitzen verpflichtet zur Diskretion".
Da Kästner, wie einst in Berlin allabendlich in kleine sparsam beleuchtete Bars geht, kennen ihn viele Kellner der Stadt. Sie stellen ihm automatisch eine Kerze auf den Tisch, damit er sehen kann, was er schreibt. Und was er schreibt ist Stenographie, Notizen für seine jeweilige Arbeit.
Als er einmal gefragt wurde, ob er Telefon habe, antwortete er: "Leider, eine Erfindung die keine Zukunft haben sollte!"
Patient mit Stammkneipe
Es gibt Glücks- , aber auch Pechsträhnen und so blieb ein Theaterstück "Die Eiszeit", auf der Strecke. Der Autor bekam den ungewöhnlichen Stoff nicht in den Griff. Auch die geplante Erzählung "Die Kavaliersreise" blieb in Kästners Notizen stecken.
Er meinte dazu: "Die Geschichte ist ausweglos traurig und mir ist ohnedies recht melancholisch zumute. Ich würde bei der Niederschrift Tränenkrüge vollweinen. Und das widerspräche dem Abkommen zwischen Erzählung und Erzähler". Kästner war krank, ohne es zu wissen. In dieser passiven Stimmung arbeitete er seine Notizen von 1945 auf. 1961 erschien ein Diarum mit dem Titel "Notabene 45". Das Vorwort Kästners war: "Ich notierte nicht alles, was ich damals erlebte. Das versteht sich. Doch alles, was ich damals notierte, habe ich erlebt".
Im Herbst des gleichen Jahres erschien auch das Werk "Gulliver". "Eulenspiegel, Gestiefelter Kater, Schildbürger von Münchhausen und Don Quichotte" diese Werke waren vorausgegangen. Kästner arbeitete an seiner Gulliver-Fassung über ein halbes Jahr. Er machte sich das heimliche Vergnügen, die herrlichen Abenteuer durch eigene kleine Einfälle, bei den Zwergen wie bei den Riesen, zu bereichern.
Im Januar 1962 mußte Kästner aus Gesundheitsgründen, - Ischias und Erkrankung der Atmungsorgane - in ein Sanatorium nach Agra, ins Tessin übersiedeln.
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Kästner meinte scherzhaft: "Da hat es ein Schriftsteller am leichtesten, er kann seinem Beruf nachgehen, auch während der Liegekur auf dem Bock, auch mit dem Thermometer im Mund, auch beim Warten vorm Laboratorium, vorm Röntgen-zimmer und auf die Visite". Bald fand er auch in Agra eine Kneipe und so schien das reduzierte Dasein nur mehr halb so schlimm.
In dieser Zeit entstand das Lustspiel "Zu treuen Händen", das Drehbuch "Liebe will gelernt sein" und das Buch "Der kleine Mann".
Ein Jahr später kehrte Kästner wieder nach München zurück, nicht völlig geheilt, aber fürs normale Leben verwendbar. Im Herbst erschien dann in London "Let´s Face it", eine von englischen Professoren übersetzte Auswahl seiner Gedichte. Im Januar 1964 fuhr Kästner, auf Anraten der Ärzte, wieder ins Sanatorium nach Agra. Diesmal dauerte der Aufenthalt nur sieben Monate.
Nach vielen offiziellen Tätigkeiten und Reisen, zum Beispiel Reise nach Schweden zur Eröffnung der Kästner-Ausstellung, oder Reise nach Dänemark zu seiner Ausstellung in Kopenhagen, erholte sich Kästner wieder einmal bei einem Kinderbuch: "Der kleine Mann und die kleine Miss". Unerwartet kam auch wieder Kästners Doktorarbeit "Friedrich der Große und die deutsche Literatur" ins Verlegergespräch und erschien 1972.
Anfang 1973 war Kästner an Grippe erkrankt und bei einer Untersuchung stellte man fest, daß er Speiseröhrenkrebs hatte. Am 29. Juli 1974 starb Erich Kästner.
Ein Verleger und Freund des Hauses schrieb: "Ein Tag ist zu Ende. Sprechen wir nicht von Sonnenuntergang. Sprechen wir von dem, was im Italienischen "Tramonte" heißt. Die Sonne ist nicht untergegangen. Die Sonne ist über die Berge entschwunden, aber sie ist da.
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