Hermann Hesse wirft in seinen Werken eine Frage auf, die jeder Mensch für sich individuell beantworten muß. Hesse skizziert zwei Grundeinstellungen, zwei Extrema des Lebens, bei denen er, (vermutlich unbewußt und ungewollt) Stellung bezieht. Auch wenn man nicht mit den Antworten Hesses in Übereinstimmung kommt, kann jeder Leser seine Sichtweise in Stücken des Werkes wiederfinden. Nimmt man zum Beispiel die Jüdin, die sich aus Ehre verweigert oder Goldmund selbst, in seinem "lockeren" Lebensstil, als absoluter Genußmensch. Die Tatsache, daß es Hesse gelingt, seine Sprache so klar und doch malerisch auszudrücken ermöglicht allen Gesellschaftsschichten den Zugriff zum Werk. "Narziß und Goldmund" ist in erster Linie auf Affekte aufgebaut und macht eine Analyse von Textstellen meines Erachtens nebensächlich.
Genau das lasten ihm seine Kritiker aus der Literatur an. Doch gerade die dargestellte zeitlose Grundproblematik von Heranwachsen, Gesellschaftsform, herrschende Moral für alle zugänglich zu machen war und ist Hesses große Stärke. Die 50 Millionen verkauften Exemplare geben ihm bis heute recht, mit seiner Einstellung dem Publikum gegenüber. Bleibt jetzt noch die Frage nach dem Sinn der Epochenwahl in "Narziß und Goldmund". Daß Hesse nie ein Freund von Geschichte war, ist aus Erzählungen hinlänglich bekannt. Rudolf Schneider sagte einmal das Werk spiele sich in einer "zeitlosen Mittelalterlichkeit" ab.
Das kann man nicht bestreiten, da (leider) jegliche historischen Bezüge fehlen. Es kommt einem so vor, als habe Hesse für seine Charaktere eine Scheinwelt erschaffen, in der sich die Charaktere nahezu unbegrenzt bewegen können. Die Tatsache, daß ausgerechnet das Mittelalter als Schauplatz erkoren wurde, zeigt ein Stück weit Hesses Geringschätzung der Massengesellschaft. Der Schauplatz ist jedoch in so fern verständlich, da sich viele Bürger in der neuartigen Demokratie nicht heimisch gefühlt haben und eine Monarchie vorgezogen hätten. Damit möchte ich Hesse jedoch keinerlei politische Absichten unterstellen. Es ist eher so, daß er die Gefühlswelt der Menschen darzustellen versucht.
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