Das Drama \"Masse\" in sieben Bildern von Ernst Toller hatte Uraufführung im Stadttheater Nürnberg am 15.November 1920. Nur in geschlossener Vorstellung konnte Tollers zweites Drama - nach \"Die Wandlung\" - uraufgeführt werden. Das Stück entstand 1919 während seiner Haft im Festungsgefängnis Niederschönenfeld und reagiert auf die revolutionären Ereignisse des Jahres 1919; ausdrücklich »den Protariern« gewidmet, versteht es sich als Kampfansage gegen jede Art von Gewalt und wurde doch in Bayern »wegen Aufreizung zum Klassenhaß« verboten. Bereits der Titel - im Erstdruck fehlt der Bindestrich zwischen »Masse« und »Mensch«, wie er in den späteren Ausgaben üblich war (\"Masse-Mensch\") - verweist auf die Bezogenheit wie Entgegensetzung von Kollektiv und Individuum.
Eine bürgerliche Frau, Sonja Irene L., solidarisiert sich mit dem revolutionären Proletariat und tritt aktiv für die Befreiung und Verbrüderung aller Menschen ein. Blutigen Klassenkampf jedoch lehnt sie ab. Ihr Mann, der gemeinsame Sache mit den Herrschenden macht, droht, sie ihrer staatsfeindlichen Umtriebe wegen zu verlassen. Die Frau zögert nicht, ihre Liebe zu ihm den vordringlicheren Interessen der »Masse« zu opfern. - Ein Traumbild zeigt den makabren Tanz der Börsenspekulanten, die Krieg und Ausbeutung des Proletariats als Geschäft betreiben. - Die Frau ruft die Masse auf, durch Streik andere, bessere Zustände zu erzwingen. Ein »Namenloser«, die Verkörperung der verhetzten, blind aggressiven Masse, fordert die Revolutionäre jedoch zu gewaltsamen Aktionen auf. Seine Thesen finden Anklang bei allen; sogar die Frau folgt seinem Appell, weil sie als einzelne sich der Masse gegenüber im Unrecht glaubt. - Das zweite Traumbild zeigt eine Zukunftsvision der Frau: Sie erlebt die Hinrichtung ihres eigenen Mannes durch die Revolutionäre. - Daraufhin sagt sie sich von der Masse los, überzeugt davon, daß Gewalt nur neue Gewalt hervorbringe und deshalb im Widerspruch zu den humanen Zielen der Revolution stehe. - Als sie, noch während des Aufstands, Blutvergießen verhindern will, wirft ihr der Namenlose Verrat vor; er ist bereit, für eine bessere Zukunft auch Menschenleben zu opfern. Der Aufstand wird niedergeschlagen, die Frau als Rädelsführerin verhaftet. - Das dritte Traumbild der Frau zeigt die Gefangene in ihrer Zelle, bedrängt von den Schatten Erschossener, die sie anklagen. Die Frau bekennt sich zu ihrer Schuld, weiß aber, daß sie nicht anders handeln konnte. Ihre Rechtfertigungsversuche gipfeln in der Anklage: »Gott ist schuldig.« Ihr Mann besucht sie in der Zelle und spricht sie von aller Schuld frei; schuldig sei allein die Masse: »Wer Masse aufwühlt, wühlt die Hölle auf.« Aber die Frau plädiert für Mitschuld und Mitverantwortung jedes einzelnen: »Schuldig wir alle.« Sie lehnt das Angebot des Namenlosen, ihr zur Flucht zu verhelfen, ab, da ein blutiger Zusammenstoß mit dem Gefängnispersonal nicht ausgeschlossen werden kann. Nun vollzieht sie endgültig die Abkehr von einer Revolution, die zur Durchsetzung ihrer Ziele vor dem Mittel der Gewalt zurückschreckt: »Höre: kein Mensch darf Menschen töten / Um einer Sache willen.« Für diese Überzeugung geht die Frau in den Tod.
Tollers Drama, in dem sich expressionistisches Menschheitspathos in ekstatisch-verkürzter Sprache verbindet mit Szenen wie den Traumbildern, die auf Elemente des epischen und antiken Theaters zurückgreifen, artikuliert sich das Grunddilemma des sozialistischen Revolutionärs, der mit gewaltsamen Mitteln zur Verwirklichung einer Utopie des Friedens und der Gerechtigkeit zwischen den Menschen angetreten ist, somit sich immer schuldig macht an der Humanität; handelt er nicht, bleiben die unmenschlichen Zustände bestehen, handelt er, muß er zu unmenschlichen Mitteln greifen. Hinter der Hauptfigur Sonja Irene L. verbirgt sich, folgt man den Hinweisen in Tollers Autobiographie \"Eine Jugend in Deutschland\", die Ehefrau eines Münchner Universitätsprofessors, die sich 1918 den streikenden Arbeitern anschloß und dafür von ihrem Mann verlassen wurde. Toller selbst begann sich nach 1921 von Form und Inhalt des Werks zu distanzieren: »Ich habe die Bedingtheit der Form erkannt, die herrührt von einer trotz allem! inneren Gehemmtheit jener Tage, einer menschlichen Scham, die künstlerischer Formung persönlichen Erlebens, nackter Konfession, scheu auswich, und die doch nicht den Willen zu einer künstlerischer Objektivation aufbringen konnte. Das Ungeheure der Revolutionstage war nicht seelisches \'Bild\' der Revolutionstage geworden, es war irgendwie noch schmerzendes, qualvolles \'\"Seelen\"element\', \'\"Seelen\"-Chaos\'«
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