Das epische Theater Brechts: "Der gute Mensch von Sezuan"
Schon der junge Bert Brecht kritisiert die Gesellschaft auf dem Theater; seine frühen Stücke "Baal", "Trommeln in der Nacht" und "Im Dickicht der Städte", aber auch "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" (1930) zeigen dies. Als Brecht sich ab 1934 dem Studium der Werke von Karl Marx zuwandte, beeinflußten ihn diese nachhaltig. Brecht erkannte das traditionelle Theater als eine in die bürgerliche Harmlosigkeit pervertierte Institution und trat nun für ein neues Theater ein: Er entwickelte die Theorie des epischen Theaters und stellte diese in seinen poetologischen Äußerungen "Das moderne Theater ist das epische Theater" stichpunktartig der des aristotelischen Theaters gegenüber:
Dramatische Form des Theaters Epische Form des Theaters
handelnd erzählend
verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion macht den Zuschauer zum Betrachter aber
verbraucht seine Aktivität weckt seine Aktivität
ermöglicht ihm Gefühle erzwingt von ihm Entscheidungen
Erlebnis Weltbild
Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt er wird gegenübergesetzt
Suggestion Argument
Die Empfindungen werden konserviert werden bis zu Erkenntnissen getrieben
Der Zuschauer steht mitten drin, miterlebt Der Zuschauer steht gegenüber, studiert
Der Mensch ist als bekannt vorausgesetzt Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
Der unveränderliche Mensch Der veränderliche und verändernde Mensch
Spannung auf den Ausgang Spannung auf den Gang
Eine Szene für die andere Jede Szene für sich
Wachstum Montage
Geschehen linear in Kurven
evolutionäre Zwangsläufigkeit Sprünge
Der Mensch als Fixum Der Mensch als Prozeß
Das Denken bestimmt das Sein Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken
Gefühl Ratio
Zweck des epischen Theaters im Sinne Brechts ist die Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft in eine, die den Vorstellungen der marxistischen Weltanschauung entspricht. Diese Möglichkeit und vor allem den Willen zur Veränderung spricht Brecht dem aristotelischen Theater und seinen Autoren ab.
Das 1938/39 entstandene "Parabelstück" "Der gute Mensch von Sezuan" trägt deutliche Züge des epischen Theaters: Die Handlung entwickelt sich nicht chronologisch, sondern sprunghaft in der Form des Stationentheaters; im Epilog wir der Zuschauer in die gezeigt Bühnen-handlung einbezogen: "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!" Die Schauspieler führen sich selbst als Rollenträger in die Handlung ein und schaffen damit eine Distanz zwischen Dramenhandlung und Rezeptions-
erwartung des Publikums. Um die desillusionierende Wirkung zu verstärken, fügt Brecht das "Lied des Wasserverkäufers im Regen", das "Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten" das "Lied vom Sankt Nimmerleinstag", das "Lied vom achten Elefanten" und das "Terzett der entschwindenden Götter auf der Wolke" ein.
Inhalt
Drei Götter kommen auf die Erde, um "gute Menschen" zu finden. Doch nur die Prostituierte Shen Te ist bereit, sie über Nacht aufzunehmen. Zum Lohn erhält sie bei der Abreise der Götter so viel Geld, daß sie damit einen Tabakladen eröffnen kann. Die Menschen kommen in Scharen zu ihr - doch nicht um zu kaufen, sondern um sich von der "guten" Shen Te in ihren finanziellen Nöten aushelfen zu lassen. Wenn das Mädchen nun seine Existenzgrund-lage nicht verlieren will, muß es aufhören, "gut" zu sein. So verwandelt Shen Te sich in Shu Ta und gibt sich für ihren Vetter aus. Dieser kann es sich nun erlauben, die Schmarotzer aus dem Laden zu werfen, ja in ihrer neuen Existenz geht Shen Te noch weiter: Als Shu Ta gründet sie eine bald florierende Tabakfabrik, in der die Arbeiter ausgebeutet werden, um den Gewinn zu sichern, Die Menschen in Sezuan fragen sich bald, wo Shen Te wohl geblieben sein mag. Shu Ta gerät schließlich in den Verdacht, sie getötet zu haben. Es kommt zu einem Prozeß, bei dem die drei Götter als Richter fungieren. In der Gerichtsszene deckt Shen Te ihre Verwandlung in Shu Ta auf und begründet diese. Die Götter können Shen Te aber auch nicht helfen und kehren in den Himmel zurück.
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