Als Aesop einmal durch Griechenland zog und überall durch seine Fabeln seine Weisheit zeigte, erwarb er sich den Ruf, ein sehr weiser Mann zu sein.
Zuletzt kam er nach Delphi, der angesehenen Stadt und dem Sitz der obersten Priesterschaft. Dort folgten ihm viele Menschen, weil sie ihm zuhören wollten; von den Priestern aber wurde er nicht ehrenvoll empfangen. Da sagte Aesop: "Ihr Männer von Delphi, ihr seid wie das Holz, das von dem Meer an den Strand geschwemmt wird. Solange es fern ist, scheint es groß zu sein, wenn es aber nahe herangekommen ist, dann sieht man, dass es in Wirklichkeit klein ist. So ging es auch mir mit euch. Solange ich noch weit von eurer Stadt entfernt war, dachte ich, dass ihr die Vornehmsten von allen wäret, jetzt aber, in eurer Nähe, erkenne ich, dass ihr nicht viel taugt.\"
Als die Priester solche Reden hörten, sagten sie zueinander: "Dieser Mann hat in anderen Städten eine große Anhängerschaft. Es könnte sein, dass unter solcher üblen Nachrede unser Ansehen leidet oder dass wir es sogar ganz verlieren. Wir müssen also auf unserer Hut sein!\"
Da beratschlagten sie, auf welche Weise sie ihn unter dem Vorwande, er sei ein böser Kirchenräuber, töten könnten; denn sie wagten es wegen des Volkes nicht, ihn (ohne einsichtigen Grund) öffentlich töten zu lassen.
So ließen sie aufpassen, bis der Knecht Aesops die Sachen seines Herrn für die Abreise zusammenpackte. Da nahmen sie eine goldene Schale aus dem Tempel des Apoll und versteckten sie heimlich im Reisegepäck Aesops.
Aesop wusste von all den hinterhältigen Machenschaften nichts, die gegen ihn im Gange waren, und als er nach Phokis zog, eilten die Priester ihm nach und nahmen ihn mit großem Geschrei gefangen. Und als Aesop sie fragte, warum sie ihn gefangen nähmen, schrien sie: "Du unanständiger Mensch, du Verbrecher! Warum hast du den Tempel des Apoll beraubt?\"
Als Aesop vor allen leugnete und sich über diese Beschuldigung entrüstete, öffneten die Priester sein Bündel und fanden die goldene Schale. Die zeigten sie jedem einzelnen und führten Aesop wie einen Kirchenräuber ungestüm und unter großem Tumult ins Gefängnis.
Aesop wusste auch da noch nichts von all den hinterhältigen Anschlägen, die man gegen ihn ins Werk gesetzt hatte, und bat, man möge ihn freilassen. Sie aber bewachten ihn daraufhin nur noch schärfer, [...] verurteilten ihn öffentlich, weil er sich des Kirchenraubs schuldig gemacht habe, und führten ihn aus dem Gefängnis, um ihn von einem Felsen hinabzustoßen.
Als Aesop das merkte, sprach er zu ihnen:
Zu der Zeit, als die unvernünftigen Tiere noch in Frieden miteinander lebten, gewann eine Maus einen Frosch lieb und lud ihn zum Nachtmahl ein. Sie gingen miteinander in die Speisekammer eines reichen Mannes, in der sie Brot, Honig, Feigen und mancherlei leckere Sachen fanden. Da sprach die Maus zum Frosch: "Nun iß von diesen Speisen, welche dir am besten schmecken!\" Als sie sich nach Herzenslust satt gefressen hatten, sprach der Frosch zu der Maus: "Nun sollst du auch meine Speisen versuchen. Komm mit mir! Weil du aber nicht schwimmen kannst, will ich deinen Fuß an meinen binden, damit dir kein Leid geschieht.\" Als er aber die Füße zusammengebunden hatte, sprang der Frosch ins Wasser und zog die Maus mit sich hinab. Als die Maus merkte, dass sie sterben musste, begann sie zu schreien und klagte: "Ich werde ohne Schuld das Opfer gemeiner Hinterlist. Aber von denen, die am Leben bleiben, wird einer kommen, der meinen Tod rächt.\"
Während sie das sagte, kam ein Habicht heran, ergriff die Maus und den Frosch und fraß sie beide.
So werde ich ohne Schuld von euch getötet, und ihr werdet um der Gerechtigkeit willen dafür bestraft, wenn Babylon und Griechenland über das Verbrechen reden werden, das ihr an mir begeht.
Obwohl die Priester das hörten, ließen sie ihn nicht los, sondern führten ihn an die Stelle, wo er sterben sollte.
Auf die Realität bezogen lehrt diese Fabel: Auch in der Wirklichkeit wird es eine höhere Macht (in diesem Fall das Volk der Babylonier und Griechen) geben, die Aesops Tod nicht ungesühnt lassen wird. So wie Maus und Frosch schicksalhaft miteinander verbunden sind, so werden auch die Priester ihrem Schicksal nicht entgehen, wenn sie ihn, Aesop, töten lassen.
In dem hier geschilderten Fall kämpft Aesop mit der Fabel für sich selbst. Bei anderen Gelegenheiten nutzt er die Fabel im Kampf für die Unterdrückten. So zeigt das Volksbuch vom Aesop einen Helden, der reale soziale Zustände, politische Vorgänge oder menschliches Fehlverhalten aufgreift, sie im Gewand der Fabel kritisiert und bewusst macht und so auf Veränderung der Situation drängt.
Andere Fabeln Aesops zielen weniger auf konkrete Lebenssituationen, sondern bringen eine allgemein anerkannte Lebensweisheit zum Ausdruck; sie stellen also mehr das belehrende als das kritisierende Element in den Vordergrund, indem sie ethische oder moralische Lehren erteilen.
Bedenkt man, dass sich seit Phaedrus nahezu alle Fabeldichter auf die Fabeln Aesops beziehen, ihre Motive, ihr Inventar, ihre Kompositionsprinzipien verwenden und oft nur variieren, so können die äsopischen Fabeln wesentliche Aufschlüsse für die Intentionalität und Kausalität der gesamten Fabeldichtung geben.
Zusammenfassend lässt sich zum Wirklichkeitsbezug und zur Aussageabsicht der Fabel feststellen, dass eine echte Fabel immer auf eine konkrete Situation (unter Umständen auch eine vom Dichter vorgegebene) bezogen ist. Der Sinn der Fabel besteht demnach darin, eine bestimmte Situation anhand eines anschaulichen Bildes zu verdeutlichen, zu kritisieren und auf Veränderung zu drängen. Die Fabel will menschliche Eigenarten, Denkweisen, zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Ungerechtigkeiten und bestimmte Zeitmerkmale schlaglichtartig und pointiert erhellen.
Sie ist in ihrem Wesen existenz- und gesellschaftskritisch, und ihre Grundhaltung ist die entschiedene Bejahung sozialer und moralischer Werte. In diesem Sinne dient die Fabel der Erkenntniserhellung und dem Finden von Wahrheit.
Die Fabel ist somit ein "vorzügliches Kampfmittel in der politischen, sozialen und religiösen Auseinandersetzung\".
Die Übertragung auf den nichtmenschlichen Bereich dient somit nicht allein der Anschaulichkeit, sie bedeutet zugleich einen Schutz für den Erzähler, denn im Narrengewand darf man unter Umständen auch einem Tyrannen die Wahrheit unter die Nase reiben - eine Wahrheit, die man ihm direkt niemals zu sagen wagte.
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