1912 ist die Vereinsamung, Versteinerung, abgeschlossen und kaum mehr von außen beeinflußbar. In einer
Rezension der Zeitschrift "Hyperion", die ihr Erscheinen eingestellt hatte (in ihr waren auch die ersten Arbeiten
Kafkas erschienen), schreibt Kafka:
Diejenigen, welche ihre Natur von der Gemeinschaft fernhält .... brauchen auch keine Verteidigung, denn das
Unverständnis kann sie nicht treffen, weil sie dunkel sind, und die Liebe findet sie überall; sie brauchen auch
keine Kräftigung, denn, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen, können sie nur von sich selbst zehren, so daß man
ihnen nicht helfen kann, ohne ihnen vorher zu schaden. 21
Durch die Kräftekonzentration entstehen im Herbst dieses Jahres die ersten Hauptwerke: der größte Teil des
Romans Der Verschollene (Amerika) und die beiden "Geschichten" Das Urteil und Die Verwandlung. Zuerst
wurde in der Nacht vom 22. auf den 23. September, Das Urteil niedergeschrieben. Unmittelbar darauf trägt
Kafka ins Tagebuch ein: Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte,
wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken..... 22
Der Verschollene wird nur noch langsam fortgeführt und einen Monat später - bis Herbst 1914 - liegen gelassen.
Auch die beiden späteren Versuche in der großen epischen Form, Der Prozeß und Das Schloß, blieben Fragment.
Franz Kafka - Sein Leben und seine Werke
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F., Felice Bauer (seine spätere Verlobte), lernte Kafka am 13. August 1912 bei Max Brod kennen. Ende Oktober
beginnt eine über Jahre (bis 1917) dauernde Korrespondenz. Kafka löst jedoch die drei Verlobungen (1914,
1917, 1919) wieder auf, ebenso die Verbindungen mit G.W. (1913), Grete Bloch (ab 1914) und Milena (ab
1920), nur die letzte mit Dora Diamant, ein halbes Jahr vor seinem Tode, war von einer gewissen Euphorie
überstrahlt. Diese Heiratsversuche und Freundschaften zu Frauen standen allerdings noch unter einer zusätzlichen
Belastung - den zweifelhaften Auffassungen von Sexualität., Ehe und Moral der Gesellschaft vor dem Ersten
Weltkrieg, die auch Kafkas Vater teilte. Dieselbe sexuelle Etikette, die die Bürgertöchter dem Virginitätsideal
unterwarf, verpflichtete die Bürgersöhne zu Kenntnissen und Erfahrungen, die sie infolgedessen nur im Bordell
erwerben konnten. So gab es in Prag auch zahlreiche Bordelle, und einige genossen unter den Rouès und
Literaten hohes Ansehen. Kafkas Begegnungen mit Huren unterschieden sich von denen seiner Zeitgenossen.
Auch sie waren verborgene Gemeinschaftssehnsucht. Die wenigen Be-ziehungen zu solchen Frauen hat Kafka
später als unrein angesehen. Um so bezeichnender, daß fast nur dieses Bild der Frau in den großen Romanen
erscheint, schon im Verschollenen als Brunelda, als aufgedunsener Fleischkoloß, besonders in den beiden
späteren Romanen, unter den zweideutigen Namen Fräulein Bürstner oder den Dienstmädchen Leni und Frieda,
als Waschweiber, als ausgehaltene Geliebte von Advokaten, Kastellanen und Beamten.
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