Im Anschluß an sein Drama führt Dürrenmatt noch insgesamt "21 Punkte zu den Physikern" an. Anhand einiger dieser theoretischen Punkte möchte ich nun exemplarisch Ansätze zu einer weiterführenden Deutung geben.
(3) Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Die Katastrophe, die über die Physiker am Ende des Stückes hereinbricht ist eine absolute. Als Friedrich Dürrenmatt einmal gefragt wurde, wie er denn das nächste Jahrhundert sehe, antwortete er: "Ich hoffe, es findet statt". Was in den Physikern die Erkenntnisse des Möbius sind, ist auf unsere Welt umgelegt das Wissen um Bau und Kräfte der Atome. Dieses Wissen führte zum Bau von tödlichen Waffen, bisher unbekannten Ausmaßes. Selbst heute, da der Kalte Krieg überwunden wurde, würde das weltweite Atomwaffenpotential ausreichen alles Leben auf der Erde gleich mehrfach auszulöschen. Die schlimmstmögliche Wendung wäre also der Overkill, die Menschheitsgeschichte zu Ende.
(8) Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen. Möbius geht freiwillig in eine Irrenanstalt, um sein Wissen vor der Welt zu schützen. Doch durch diesen Schritt gelangen seine Erkenntnisse in die Hände einer Geisteskranken und genau das, was er vermeiden wollte, tritt ein. Von Physikern wird erwartet, daß sie planmäßig und logisch vorgehen. Newton und Einstein werden von ihren jeweiligen Geheimdiensten monatelang für ihre Mission ausgebildet, doch gegen den Zufall sind sie machtlos. Hält man sich die Geschichte der Atombombe vor Augen, wird klar, was Dürrenmatt damit zum Ausdruck bringen will. Nachdem 1938 die Kernspaltung entdeckt wurde, waren selbst Größen wie Otto Hahn, Ernest Rutherford und Albert Einstein der irrigen Annahme die Idee an eine Bombe entbehre jeder Realität. Schließlich waren sie selbst es, die die Bombe ermöglichten. Erst im Glauben Hitler-Deutschland zuvorkommen zu müssen, gab es dann kein Zurück mehr, auch als schon lange klar war, daß alles ein Trugschluß war.
(18) Jeder Versuch für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern. Möbius wagt diesen Versuch. Er übernimmt die Verantwortung, aber erreicht damit nichts. Er versucht sein Wissen zurückzuhalten und scheint so als die einzig moralisch korrekt handelnde Person in diesem Stück. Doch was er im Großen anstrebt, ist er nicht fähig im Kleinen selbst zu leben. Er forscht selbst im Irrenhaus noch weiter, obwohl er weiß, wie gefährlich seine Formeln sind. Er ist alleine nicht lebensfähig, muß behütet und von seiner Frau ausgehalten werden. Konsequenterweise hätte Möbius Selbstmord begehen müssen, um die Welt zu bewahren. Stattdessen tötet er eine junge Frau unter dem Deckmantel der Moral. Mit all diesen Handlungen lädt er Schuld auf sich. Deshalb haben seine Lösungen nie Aussicht auf Erfolg.
(19) Im Paradoxon erscheint die Wirklichkeit. Dadurch daß Dürrenmatt die Handlung in ein Irrenhaus verlegt ist das Geschehen von Anfang an grotesk. Paradox wird es aber erst, als die scheinbar irren Physiker verantwortungsbewußt und integer werden, während die philantropische Ärztin sich als gefährliche Psychopathin entpuppt. Die Maske der Narrheit, die die Physiker tragen, war schon lange Wirklichkeit, als sie selbst noch glaubten Theater zu spielen. Selbstverständlich ist die Handlung unwahrscheinlich. Sie ist extrem, aber möglich. Dürrenmatts Paradoxa sind spektakulär, aber sie entbehren nie einem Bezug zur Realität.
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