1915, als Elfriede Hengstenberg ihren Gymnastikunterricht begann, legte sie vordergründig wert auf "eine gründliche Körperdurchbildung"[5]. Sie versuchte durch Training und Gymnastik, den körperlichen Problemen von Kindern Herr zu werden. So therapierte sie Senkfüße, schiefe Hüften, gekrümmte Wirbelsäulen, mangelhafte Atmung und Haltungsschäden[6].
Zuerst glaubte sie auch einen Erfolg zu erzielen, aber nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass die Kinder ihre "Spannkraft" und "Elastizität"[7] nur in ihren Unterrichtsstunden aufwiesen und sie danach wieder ablegten. In ihrem Buch "Entfaltungen" schreibt sie: "Solange ich als Lehrende hinter den Kindern stand, ihnen Anregung zu Schwung, Elastizität und Spannkraft gab, übte die Gymnastik ihre segensreiche Wirkung aus: Die Kinder veränderten sich in ihrer Totalität. [.] Aber wo blieben Elastizität und Spannkraft, wenn niemand mehr hinter den Kindern stand?"[8] Selbst wenn ihre Schüler ihre Haltungsschäden in der Stunde ablegten und sich wie gesunde Kinder sich bewegten, so fielen sie nach Beendigung der Stunde zurück in ihre alten Bewegungsmuster. Immer wieder fiel ihr auf, dass Kinder aus ihren Gymnastikstunden im Alltag durch die Straßen "latschten" oder in der Bahn saßen, dass sie ganz erschüttert war.[9] So kam Elfriede Hengstenberg schließlich zu der Erkenntnis, ".dass z. B. schlechte Haltung selten oder kaum von außen korrigiert werden kann."[10]
Dabei glaubte Elfriede Hengstenberg, dass Kinder von Natur aus über eine gute Haltung und Spannkraft verfügen. Durch ihre Arbeit mit Elsa Gindler und Heinrich Jacoby entwickelte sie den Gedanken, dass z. B. schlechte Haltung ein Ausdruck des Befindens des Kindes ist. "Sie [die schlechte Haltung] ist mit all ihren Symptomen der Ausdruck einer ungünstigen Verhaltensweise des Kindes im physischen wie im psychischen Sinn."[11]
Das heißt, dass es eine natürliche, motorische Entwicklung eines Kindes gibt, die durch äußere Einflüsse behindert wird.
Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler, die Jahrzehnte lang mit Kindern arbeitete, stellte eine Liste von natürlichen Entwicklungsmerkmalen eines Säuglings vor, auf denen sich die gesamte, folgende körperliche Entwicklung stützt:
"a) Säuglinge sind im allgemeinen zufrieden, friedlich, heiter und aktiv. Sie haben eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern oder Bezugspersonen sowie zu ihrer Umwelt.
b) Die Bewegungsentwicklung der Kinder ist kontinuierlich.
c) Kindern bereitet jede Phase der Bewegungsentwicklung, die ständige aktive Tätigkeit, das Experimentieren und Üben sichtbare Freude. [.] Jede Bewegung, jedes neue Detail, und das gibt es immer, fordert von den Kindern ihre ganze Aufmerksamkeit. An dem charakteristischen Gesichtsausdruck der Kinder während ihrer Versuche kann man sowohl die Intensität dieser Aufmerksamkeit wie auch ihr Interesse und ihre Freude ablesen.
d) Kinder bewegen sich schön und harmonisch, nicht ungeschickt und schwerfällig, wie man im allgemeinen die Bewegungen der Säuglinge beschreibt. Ihre Bewegungen sind in der Regel weich, sicher, gut koordiniert und im Gleichgewicht."[12]
Also gilt es, diese natürlichen Verhaltensweisen zu unterstützen und das Kind in seine ursprüngliche Entwicklungsrichtung zu fördern.
Erst durch Haltungskorrigierungen durch die Eltern, wie ständiges Aufsetzen oder Hinstellen, durch Ermahnen, wie "Setz dich gerade hin!" treten Haltungsschäden auf. Aber auch psychischer Stress oder traumatische Erlebnisse können zu nachhaltigen Veränderungen und Schädigungen führen.
"Es war also notwendig, sich nicht nur für die körperliche Entfaltung des Kindes zu interessieren, sondern für seine Gesamtentwicklung: [.]"[13]
Das Interesse des Kindes in seiner ursprünglichen Entwicklung ist das selbstständige Entdecken und Erfahren. "Ein Kind, dem man weder bei den Aufrichteversuchen zum Sitzen oder Stehen, noch bei den ersten Laufversuchen hilft, dem man keine Hand gibt, um es hochzuziehen oder zu stützen, wird von Anfang an selb- sitzig und selb- ständig sein und bleiben."[14] Hengstenberg geht davon aus, dass die Überwindung von Widerständen, das Selbstständig sein und das Entdecken aus eigener Initiative dem Kind seine Spannkraft und Elastizität verleiht.
Wichtig ist ihr dabei die Selbstständigkeit. Das Kind entscheidet selbst, wie es etwas macht und erkennt damit den effektivsten Weg. Es konzentriert sich auf sein Tun, hat Spaß daran und entwickelt dadurch nicht nur seine Motorik, sondern entdeckt auch Wege, Probleme selbst zu lösen.
Das stellte die Gymnastiklehrerin vor eine weitere Aufgabe. Sie musste einerseits für die Sicherheit und die Beaufsichtigung der Kinder sorgen, auf der anderen Seite ihnen aber auch freie Hand lassen. "Ich lasse die Kinder also grundsätzlich selbständig forschen und entdecken. Ich lasse sie frei experimentieren, aber nicht wahllos tun, was ihnen gerade einfällt.
Ich wähle eine bestimmte Aufgabe, die nach meinem Ermessen für die Kinder notwendig ist, formuliere sie so, dass sie Spaß daran haben, und bereite Gegenstände und Geräte vor, die die Kinder verlocken, damit zu experimentieren"[15], schreibt sie in ihrem Buch. Wichtig ist, dass sie die Kinder alleine ihre Schwierigleiten lösen lässt und sich nicht einmischt. So machen sie ihre eigenen Erfahrungen und Entdeckungen. "Sie kommen bald selbst dahinter, dass einem geglückten Experiment eine sinnvolle Verhaltensweise zu Grunde liegt und umgekehrt."[16]
Durch Erfolgserlebnisse im Experimentieren entwickeln Kinder Spaß an dem was sie tun und stellt fest, "wie bereitwillig Rumpf und Glieder, Atmung und Stimme reagieren, sobald wir sie im lebendigen Zusammenhang gebrauchen."[17] Jedes Kind muss selbst ausprobieren um zu einem Ergebnis zu gelangen. Es hilft dem Kind nicht, einfach ein Bewegungsmuster zu kopieren oder nachzuahmen. Entscheidend ist, dass es alle Phasen des selbstständigen Experimentierens durchschritten hat. Es ist nicht effektiv, das Kind zu einer Leistung zu zwingen. "Ihr Organismus ist [.] für solche Anforderungen noch nicht vorbereitet und versagt. Die Leistung wird durch Ehrgeiz und Geltungstrieb erzwungen, lässt aber deutlich den Mangel an Qualität erkennen."[18] Zwänge und Druck verhindern die Entwicklung mehr, als dass sie sie fördern.
Durch das selbständige Herausfinden in Hengstenbergs Gymnastikstunden versuchte sie auch, die Kinder im realen, alltäglichen Leben zu einem solchen Verhalten zu animieren. Deshalb "übte" sie mit ihren Schützlingen Alltagssituationen, wie Sitzen in der Schule, Laufen, Schreiben, Essen bei Tisch. Die Kinder sollten sich einer solchen Situation aussetzen und den für sie besten Weg herausfinden. Durch Ausprobieren gelang es ihnen und sie setzten sich mit den Problemen, die sie in den jeweiligen Situationen vorher hatten, auseinander. Dabei fanden sie heraus, warum diese ihnen immer Schwierigkeiten bereitet hatten und wie sie diese beseitigen konnten. Dadurch, dass die Kinder selbst auf ihren Lösungsweg gekommen sind, waren sie dementsprechend begeistert und wandten ihn in ihrem Alltag auch an.
Für die Kinder ist entscheidend, dass ihr Forschen und Erfahren wie ein Spiel funktioniert. Wenn sie keine Lust mehr haben, auszuprobieren, dann hören sie auf oder machen eine Pause.
Nur durch das eigenständige Entscheiden, wie weit die eigenen Kräfte gehen, wie viel es seinem Körper zutrauen kann und wann es eine Grenze erreicht, entsteht ein Körperbewusstsein, dass zur Folge hat, dass das Kind neben neuen Erfahrungen auch eine gesunde Körperhaltung davonträgt. Denn der angenehmste Weg ist meistens auch der gesündeste, man muss ihn nur finden.
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