Russland gehörte zu den ersten Ländern, in denen ein stärkeres Nationalbewusstsein aufkeimte. Eine gebildete Mittelschicht brachte Schriftsteller wie Puschkin[26], Dostojewski[27] und Tolstoi[28] hervor, aber auch Komponisten, die eine spezifisch russische Musik schaffen wollten. Sie verschmolzen russische Volksmusik mit der klassischen Musik des Abendlandes zu einem kraftvollen, sehr eigenwilligen Stil. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten echten russischen Opern: Michail Glinkas[29] "Das Leben für den Zaren" und "Ruslan und Ludmilla" sowie Alexander Dargomyschskis[30] Vertonungen von Puschkin "Rusalka" und "Der steinerne Gast". Glinka und Dargomyschski bildeten sozusagen die Vaterfiguren einer Gruppe junger Komponisten um Mili Balakirew[31] (1837 - 1910), die mit Alexander Borodin[32], Cesar Cui[33], Modest Mussorgski[34] und Nikolai Rimski-Korsakow[35] als "Die Fünf" bekannt wurden. Ihr Ziel war eine nationale Musik auf der Basis russischer Volksmusik. Das etwas rudimentäre Verständnis klassischer abendländischer Musikformen kam der Verwendung des Folkloristischen entgegen. Um 1870 verfügte die Gruppe bereits über einen unverwechselbaren Stil und schuf einflussreiche Werke: Borodin hatte seine zweite Symphonie und einen Großteil der Oper "Fürst Igor" vollendet, Mussorgski
seine große Oper "Boris Godunow". Borodin wie Mussorgski hatten beide andere Berufe, Balakirew und Cui taten sich beim Komponieren schwer, und Rimski-Korsakow, zwar ein guter Theoretiker und Meister der Instrumentation, schrieb recht akademische Kompositionen. Meisterwerke waren somit eher die Ausnahme. Doch gab es noch einen weiteren russischen Komponisten mit einer konservativen anspruchsvollen und zutiefst europäischen Musikausbildung, Peter Tschaikowsky[36]. Seine erste Symphonie stand noch in der klassischen Tradition. Nach der Begegnung mit Balakirew im Jahr 1867 bekam Tschaikowskys Musik einen nationaleren Klang. Nach ihm versuchten einige Komponisten nationale Besonderheiten mit europäischem Musikgeschmack in Einklang zu bringen. Alexander Glasunow[37] und Sergei Rachmaninow[38] waren zwei weitere große russische Komponisten.
Die Oktoberrevolution versetzte der nationalen Musik Russlands einen Schlag. Zwar basierte diese Musik auf folkloristischen Melodien, doch entstammte sie einer intellektuellen Mittelschicht, die dem Zarentum nicht unbedingt kritisch gegenüberstand. Unter dem neuen sowjetischen Regime musste man sich jedoch der Parteilinie unterwerfen. Linientreue Komponisten waren Stalin besonderes Anliegen, und er konnte all jenen das Leben sehr schwer machen, deren Musik bourgeois[39] war. Sowjetische Komponisten, die neue, aufregende Wege beschreiben wollten, standen vor einem Problem. Die einfachste Lösung war, mit sanktionierten Partituren die Vorzüge des Systems zu preisen, und viele Komponisten taten dies auch. Andere vertrauten auf die Weiterführung eines nationalen Stils, zum Beispiel der Armenier Arman Chatschaturjan[40], wobei
Folkloristisches oft durch sowjetisches Heldentum ersetzt wurde. Wiederum andere verließen das Land. Der bereits als großer Modernist bekannte Sergej Prokofjew[41] (1891 - 1953), ein Meister seines Fachs, verließ Russland 1918, als die Gründung der Sowjetunion bevorstand. Er ließ sich in Paris nieder, vermisste seine Heimat jedoch sehr. Nach mehreren Besuchen in Russland kehrte er 1933 zurück und war zu einem unangenehmen Kompromiss gezwungen. Um Stalin zu beschwichtigen, musste er seine Musik vereinfachen. Dennoch entging er nicht der Kritik, und manche Werke wurden erst nach seinem Tod wieder aufgeführt. Dmitrij Schostakowitsch (1906 - 1975) blieb in Russland und suchte nach Möglichkeiten, sich mit dem System zu arrangieren. In der Regel gelang ihm dies, da er dem Anschein nach einen "sozialistischen Realismus[42]" vertrat, aber diesen im Grunde meist zynisch parodierte. Durch seine Oper "Lady Macbeth von Mzensk" kam es zum ersten großen Zusammenstoß mit Stalin, weitere sollten folgen. Selbst nach Stalins Tod fiel es ihm schwer, seine Musik mit dem System in Einklang zu bringen, und ein Anflug von bitterer Ironie durchzieht sein gesamtes Werk.
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