Tondokument 3,4 CD op.27, Nr.1 (1925)
Wie Bertold Brecht bezeugt, hatte Schönberg 1944 ihm gegenüber
bei einem gemeinsamen Dinner erklärt, \"im gegensatz zu anderen,
finde er seine werke mitunter schleußlich klingend. nachdem er
sie niedergeschrieben habe, verstehe er sie nur noch schwer und
müßte sie mühsam studieren.\" (Musikkonzepte, Sonderband, S.245).
Gehört diese 1925 geschriebene Chorfuge möglicherweise auch
dazu? Ich habe sie aber aus einem bestimmten Grund ausgewählt.
Dazu muß ich - wenn Sie mir erlauben - ein wenig ausholen:
Schönberg wird der Vater der Neuen Musik genannt. Außer der eben
dargestellten besonderen Ästhetik des Wahren anstatt des
Gefälligen, die vor allem bis in die 60er-Jahre in den Zentren
für Neue Musik als verbindlich galt, ist es natürlich auch die
Dodekaphonie, bekannter unter dem Namen Zwölftonmusik, mit der
eine neue Epoche der Musikgeschichte begann. Es ist
erforderlich, diese von Schönbergs erfundende
Kompositionsmethode in den Grundzügen zu erläutern. Da ist
dieses Chorstück zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie man es
machen soll, und es ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie man
es nicht machen soll...
Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer: Strapaziere ich Ihre Geduld
zu sehr? Das war sowohl ein gutes als auch ein schlechtes
Beispiel?
Zunächst: Was es denn nun eigentlich bedeutete, die bisher in
der Tonwelt vorherrschende Hierarchie der Töne zunehmend in
frage zu stellen, erläutert Schönberg sehr anschaulich in seiner
1911 verfaßten Harmonielehre. Er vergleicht die Stufen der
Tonleiter, in der ein Ton als der alles beherrschende Grundton
fungiert mit dem Verhältnis eines regierenden Herrschers zu
seinen Untergebenen.
Zitat 7 Tonalität HL 177
Im Anschluß an diese lebendige Darstellung läßt sich Schönbergs
\"Methode der Komposition mit zwölf (nur auf einander bezogenen)
Tönen\" ganz gut erläutern. Aus der hierarchischen Struktur der
Tonwelt wird nun eine konsequent demokratische, man möchte fast
sagen basisdemokratische: Keiner der auf dem Klavier zu
findenden 12 verschiedenen Töne darf sich innerhalb einer
Melodie als beherrschend hervortun, alle sollen gemäß der
Theorie Schönbergs gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Damit wird eine Tendenz, die es schon bei Komponisten wie Liszt
und Wagner gab, bis zur letzten Konsequenz getrieben,
systematisiert und innerhalb eines ästhetischen Kontextes
entwickelt wie sie dann auch bei anderen bedeutenden Komponisten
der Neuen Musik wie Boulez, dem frühen Stockhausen oder
Lachenmann zu finden ist.
Sicherlich gehört das eben vorgespielte Chorwerk zu den mit
äußerster Konsequenz zwölftönig komponierten Stücken: Es ist ein
Musterbeispiel, weil es so schön übersichtlich ist: Beim Studium
der Noten kann man die Kompositionstechnik relativ leicht
durchschauen: Die zwölf Töne der sogenannten chromatischen
Tonleiter wurden zunächst gleichberechtigt
nebeneinandergestellt. Dann wurde vor dem eigentlichen
Kompositionsvorgang daraus eine festgelegte Tonreihenfolge
erfunden , in unserem Falle der 7.-6.-2.-9...Ton etc., dann muß
der Chor schließlich nach einem bestimmten vorher festgelegten
Prinzip diese Reihe singen: Die eine Stimme beginnt die Tonreihe
von vorne zu singen, die andere muß die gleichen Töne vom Ende
beginnen, eine andere Stimme muß das singen, was man die
\"Umkehrung\" nennt, mit anderen Worten: war die Melodie bisher
aufsteigend, kehrt sich jetzt die Richtung um.
So wird die Zwölftonmusik oft im Schulunterricht erklärt und
dieses Werk mag manchem Gymnasiallehrer als willkommenes
Unterrichtsmaterial dienen, um schnell mal zu erklären, was die
Musik von Schönberg ausmacht... Diesen Schullehrern rufe ich
heute ein deutliches \"Mit nichten, meine Damen und Herren,\"
entgegen, \"so einfach und banal ist das zwar bei dieser sicher
auch aus Demonstrationszwecken geschriebenen Schulfuge, aber
damit ist bei weitem nicht der Kern des Kompositionsstiles von
Schönberg beschrieben!\"
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