Mit Blick auf die Jahrzehnte um 1900 und auf den Ersten Weltkrieg wurde viel von einem »Verlust der Mitte« oder einem »spätzeitlichen Ende des christlich-europäischen Abendlandes« gesprochen. Zu Recht, denn es ging eine Epoche zu Ende, in derÿý abgesehen von den immensen materiellen Schädenÿý die humane Mitte der Menschen mit einem gewachsenen Wertesystem tief getroffen worden war. Doch auch zu Unrecht, denn derartige Metaphern verbergen, dassÿý solange Friede herrschteÿý ungeachtet aller morbiden Fin-de-Siècle-Tendenzen, wie sie in atemberaubender Weise gerade in der Julikrise 1914 zu spüren waren, der Weg bereitet wurde für den Aufbau neuer menschlicher Mitten eines modern-pluralistischen Zeitalters. Dieses Phänomen war allenthalben zu spüren: In den Städten zeigten stolze Bürgerhäuser und modellhafte Arbeitersiedlungen, dass die Klassengesellschaft zwar noch andauern würde, dass aber hart an den Grundlagen für eine bürgerliche Wohlstandsgesellschaft gearbeitet wurde. Renommierte wissenschaftlich-technische Institutionen dienten diesem Ziel ebenso wie die großen Arbeiterbildungsvereine. Freilich hinkten die Politiker mit ihrem imperialen Auftrumpfen hinterher, ihre hybride Machtpolitik hatte eine vorrangig destruktive Komponente. Doch auch hier hatten die Haager Friedenskonferenzen neue Ordnungsvorstellungen angesprochen, und das liberale Großbritannien hatte mit seiner Idee der Pax Britannica eine Leitvorstellung für die internationale Politik geliefert, von der keineswegs ausgemacht war, dass sie in einer Politik des Machtrausches und der Panik untergehen würde. Ein mühsamer Weg zu einer Reform des europazentrischen Staatensystems mit neuen Teilhabern und einer neuen Definition dessen, was politische Macht im 20.ÿJahrhundert bedeutete, konnte beschritten werden. Der Erste Weltkrieg stellte demgegenüber die Urkatastrophe des noch jungen Jahrhunderts dar. Der selbstzerstörerische Schlag gegen das alte Europa traf dessen Substanz, und seine einsatzfreudigen Menschen wurden in ihren Bemühungen weit zurückgeworfen.
Das Erbe des Weltkriegs
In den ersten Kriegswochen zeugten Burgfriedenskonzepte und Kriegseuphorie von einem sinnlich empfundenen, beglückenden Aufbruch zu einer Heilung und Integration Alteuropas. Weithin begrüßte man das Entstehen von vormals so vermissten »Volksgemeinschaften«, doch traten diese zum gewaltsam-reformatorischen Kampf für eine Einheit Europas unter jeweils eigener Führung an. Vor allem die Civilisation française als Hort der Humanität, die deutsche Kultur der Mitte und die zivilisatorische Idee der britischen Weltmacht wurden beschworen, und bei einer entsprechenden Propaganda zogen die Heere ins Feld; das eigene Volk sollte »erlöst«, der »seelenlose« Feind vernichtet werden. Eine Flucht in eine einheitsstiftende Mystik fand selbst in dem rückständigen Russland und bei kleinen Völkern statt. Die Realität des Krieges kontrastierte nur zu bald mit solchen vermeintlichen Sinnvorgaben: Weder Grabenkriege noch Materialschlachten hatten heilbringende oder erlösende Komponenten. Sie bedeuteten einfach Tod sowie menschliche Entwürdigung und waren apokalyptisch. Seelenlos war sowohl das befohlene Herausrennen aus den Gräben in ein sicheres Verderben wie auch das Abschlachten der anstürmenden Soldaten mit Maschinengewehren. Das Lügenmeer der Propaganda und der zensierten Presse brachte es zwar fertigÿý neben den Befehls- und Richtungsvorgaben durch Militärs und Politikerÿý, die Sinnvorgaben von 1914 als vorherrschende Sicht aufrechtzuerhalten und damit das »Schlachthaus Europa« funktionieren zu lassen; aber zumindest die nicht selten in Wahnsinn und Selbstmord endenden Frontsoldaten erkannten die Realität.
Sowjetrusslandÿý Die Spaltung der Welt deutet sich an
Nicht zufällig wurde der Untergang Alteuropas in Russland und in den USA am tiefsten empfunden und mit neuen Weltkonzepten beantwortet. Das alte Russland, das blasphemisch von seinen Soldaten als »Engel des Heiligen Michael« und von einem Krieg des »Heiligen Russland« sprach, während seine unfähigen Kommandeure bis zu einem Viertel der Soldaten unbewaffnet an die Front in den sicheren Tod schickten, war physisch und moralisch zum Untergang verurteilt. Die innere Zerstörung des Landes ermöglichte es Lenin und Trotzkij, eine Weltrevolution, eine klassenlose internationale Gesellschaft und neue Mythen mit höchst traditionellen Wurzeln zu verkünden. Die in der übrigen Welt vor allem bei Sozialisten zu spürende Faszination dieser neuen umfassenden Heilsidee beruhte darauf, dass das isolierte Sowjetrussland sich als einzige Macht konsequent weigerte, weiterhin am Weltkrieg teilzunehmen. »Übersehen« wurde dabei geflissentlich, dass Lenin und Trotzkij zu vorderst rüde Machtpolitik betrieben und ihr Herrschaftsmodell auf der Liquidation von Feindgruppen aufbaute. Eine Spaltung der Welt im 20.ÿJahrhundert, zwischen Bolschewiki mit deren Bewunderern auf der einen und deren Gegnern auf der anderen Seite, deutete sich an.
Wilson entwickelte demgegenüber sein Konzept mehr als ferner Beobachter. Angesichts der Selbstzerfleischung Europas aktivierte er pathetisch das Evangelium oder den Traum Amerikas von einer »neuen Welt«. Diese sollte in einem entscheidenden und abschließenden Krieg ihre Leitlinien gegen Teile jenes Alteuropas durchsetzen, das sich im Imperialismus verstrickt hatte. Der Krieg galt als moralische Veranstaltung der Völker und erlösende Mission, dieÿý bei relativ geringen amerikanischen Opfernÿý eine gleichberechtigte und demokratische Völkerfamilie hervorbringen sollte. Der macht-, wirtschafts- und handelspolitische Aufschwung des Landes im Weltkrieg war gewaltig. Als Gläubigernation bestimmte man fortan die Westalliierten, doch blieb unsicher, wie viel der Schulden später wieder eingetrieben werden konnte und wie sich der Handel mit Europa entwickeln würde. Die innere Einheit der USA konnte im Weltkrieg ungeachtet eines anfänglichen Integrationsschubs kaum ausgebaut werden, es traten sogar neue Probleme auf. Für die Lage der Arbeiter war es ein böses Omen, dass 1918 der amerikanische Sozialistenführer Eugene Victor Debsÿý wegen seiner Opposition zum Kriegÿý zu zehn Jahren Haft verurteilt war. Für die Friedenszeit, die ohne das Schwungrad der Kriegsgüterproduktion auskommen musste, standen harte Verteilungskämpfe an. Offenkundig war auch das Scheitern der Bemühungen der Afroamerikaner, sich durch Teilhabe an der Sache Amerikas in den Staat zu integrieren. In der Armee blieb man zumeist strikt getrennt, und Diskriminierungen in Südstaatenmanier wurden fortgesetzt. So half es den Afroamerikanern wenig, dass »ihr« Jazz und »ihr« Blues von ihren neuen Domizilen in den Wirtschaftszentren aus ihren Siegeszug antraten. Alles entscheidend war aber, dass sich die USA, als Wilsons Konzept in den Pariser Friedensverträgen nicht voll durchzusetzen war, politisch aus Europa zurückzogen. Eine ökonomisch-finanzielle Abhängigkeit Europas musste jedoch Bestand haben. Die offenen Fragen waren hier, wie umfassend und andauernd der Rückzug der USA sein würde, ob er einen mühsamen und langsamen Wiederaufbau Europas gerade noch zulassen oder ob er den Kontinent in eine noch größere Zerstörung hineintreiben würde.
In dessen Mitte und Westen, wo die Massenhysterie am längsten und dauerhaftesten grassiert hatte, war die Hohlheit des Glaubens an die Vaterländer und ihre Sendungen besonders offenkundig. Führende Politiker wie Lloyd George und Bethmann Hollweg wollten dem Völkerhass Grenzen setzen, um Europa Chancen für eine Regeneration zu belassen. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gesellschaft war die Wandlung der Künstlerin Käthe Kollwitz symptomatisch. Identifizierte sie sich zunächst mit den jugendbewegt-vaterländischen Ideen ihres Sohnes, so rang sie sich nach dessen Tod zu der Erkenntnis durch, dass es für den millionenfachen Mord eine Rechtfertigung nicht geben konnte. Die Fähigkeit zum Mitleiden und Trauern erwuchs aus der Konfrontation mit dem technisierten Töten. Ob solche Kehrtwenden ausreichten, um das gedankliche Fundament für eine Rekonstruktion Europas zu bilden, blieb angesichts einer vorherrschenden Orientierungslosigkeit eher zweifelhaft, zumal sich die Bataillone von Professoren und Publizisten, die unbelehrt ihre Kriegsziele verkündeten, viel zu langsam lichteten. Man konstruierte Mythen, in Deutschland zum Beispiel einen Jung-Siegfried-Mythos, demzufolge eine unsterbliche Jugendÿý zum Beispiel bei der Schlacht von Langemarckÿý singend und schöpferisch in den Tod gegangen sei und eine Fackel an künftige Generationen weitergegeben habe. Auch Heldenhaine für Gefallene suggerierten einen Kreislauf von Tod und Wiederauferstehung sowie von Märtyrern und Nachfolgern. Am schwersten wog der Mythos der Frontsoldaten. Zu einer Zeit, in der überall der Egoismus zu triumphieren schien, lag es nahe, in dieserÿý wie Ernst Jünger formulierteÿý »In Stahlgewittern« zusammengefügten grauen Phalanx das Schöpferische und das Eigentliche schlechthin zu sehen. Angesichts solcher Menetekel für die Zukunft kam letztlich alles darauf an, ob und wie der Weltkriegsnationalismus durch die konkreten Beschlüsse der Pariser Verträge besiegt werden konnte. Beharrte ein unbelehrbares Europa auf seinem traditionellen Gegeneinander, dann drohte ihm ein im Ersten Weltkrieg geborenes, sich nochmals steigerndes Unheil.
Der Beginn der Entkolonialisierung
Zudem hatten die Versuche der Europäer, in aller Welt Mitstreiter und Helfer zu aktivieren, ihren Preis und es wollten die Parolen eingelöst werden, dass eine demokratische Ordnung errichtet werden oder mehr Selbstbestimmung das Recht des Stärkeren ersetzen sollte. Tendenziell wurde damit die Entkolonialisierung auf den Weg gebracht. Für die Nichteuropäer gab es eindrucksvolle Signale: Japan hatte Deutschland aus China vertrieben, womit erstmals eine europäische Großmacht aus Asien weichen musste. Indien, Indochina und Marokko hatten, als sie ihren Kolonialherren Truppen zur Verfügung stellten, erfolgreich dem Kalkül vertraut, dass die heimkehrenden Soldaten ihren Unabhängigkeitsbewegungen Rückhalt bieten würden. Den Afrikanern war mit dem Kolonialkrieg der Europäer das Schauspiel eines »Kriegs der weißen Stämme« geboten worden, das die Kolonialisten diskreditierte. Frankreich hatte sich besonders stark auf Chinesen und Afrikaner als Arbeitskräfte und Soldaten gestützt, wobei das Erscheinen von Farbigen in der Sommeschlacht und danach als Besatzungstruppen am Rhein in Deutschland einen empfindlichen Schock auslöste. Doch letztlich ging es auf der Pariser Friedenskonferenz weniger um Emanzipation der Kolonien als um den Gewinn neuer außereuropäischer Territorien, wobei Großbritannien der Hauptnutznießer war. Die von Deutschland übernommenen Kolonien standen dabei nicht einmal im Mittelpunkt. Wichtiger waren die drei neuen Mandatsgebiete Irak, Transjordanien und Palästina aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches, die eine britisch beherrschte Landbrücke vom Mittelmeer zum Persischen Golf brachten. Mit der neuartigen Konstruktion von Mandatsherrschaften, die dem Völkerbund zugeordnet waren, wurden allerdings auch zukunftsweisende Veränderungen der Kolonialherrschaft angestrebt: Selbstverantwortung und -bestimmung waren ernst gemeinte Zielvorgaben, die auch bei den dominions zu beobachten waren. Mit solchen Plänen für eine Emanzipation oder gar Entkolonialisierung konkurrierten aber robuste Machtansprüche der Europäer, die sich mit Interessengegensätzen vor Ort wie in Nahost zwischen Palästinensern und Juden vermischten.
Versailles und die Folgen
Die internationale Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg war zudem durch die der Konzeption nach bestechende Neuschöpfung des Völkerbundes gekennzeichnet; dessen Sitz Genf signalisierte, dass Europa immer noch eine zentrale Stellung in der Welt zugedacht war. Die angestrebte demokratische Transparenz der Politik, eine Verrechtlichung dieser Politik undÿý zumindestÿý eine Ergänzung des Großmächtesystems durch ein pluralistisches Mitwirken der Mittel- und Kleinstaaten waren hehre Ziele. Doch der Stau an ungelösten und vertagten Problemen war enorm, zumal dem Völkerbund nicht alle Staaten angehörten. Auch war mit dem Ersten Weltkrieg die Zeit eines stabilen Welthandels, der Wohlstand schuf und politische Spannungen dämpfen konnte, erst einmal vorbei. Dieser besaß keine Chance zur raschen Regeneration, da auch das internationale Währungssystem undÿý zumindest auf dem europäischen Kontinentÿý die nationalen Währungen in schwere Nöte gerieten. Gewaltige Einzelprobleme, an die bei Ausbruch des Krieges niemand hatte denken können, waren entstanden. Russland fiel als Rohstofflieferant und Absatzmarkt aus, und in den neuen Staaten Ost- und Südosteuropas kam wirtschaftliche Not auf, weil große Handelsräume parzelliert worden waren. Auch taten sich die nationalen Wirtschaften angesichts solcher Rahmenbedingungen bei der Umstellung auf eine Friedenswirtschaft schwer, kam die Ausnutzung technischer Innovationen aus der Kriegszeit, beispielsweise in der Flugzeug- oder Autoindustrie sowie im Nachrichtenwesen, wenig voran und fehlten für eine Deckung des Nachholbedarfs bei Konsum und Wohnungsbau die Mittel, sodass schließlich auch ein anhaltendes Arbeitslosenproblem die Folge war.
Die Hoffnungen, die darauf gründeten, dass sich bis an die Grenzen Sowjetrusslands erstmals das Modell liberal-demokratischer Verfassungsstaaten durchgesetzt hatte, waren gleichfalls wenig fundiert. Adel und traditionelle Eliten hatten zwar Macht verloren, waren aber keineswegs überall ausgeschaltet. Die nach 1918 zum Zuge kommenden liberalen Verfassungen waren Zielvorgaben der großen liberalen Parteien des 19.ÿJahrhunderts gewesen, doch gerade das liberale Bürgertum hatte im Weltkrieg nicht mehr wettzumachende Verluste erlitten. Sozialisten und Gewerkschaftler schienen jetzt allerdings auf neue Führungsarbeiten besser vorbereitet zu sein. Doch eine anhaltende, auf wechselseitiger Akzeptanz beruhende Kooperation mit bürgerlichen Kräften, die eine unverzichtbare Basis für ein Funktionieren der Demokratien darstellt, schien völlig ungesichert, zumal sich angesichts wirtschaftlicher und finanzieller Engpässe eine Bewahrung des sozialen Fortschritts als aufreibende Dauerschwierigkeit erweisen musste. Schließlich war auch der strukturelle Gegensatz von Stadt und Land im Weltkrieg nicht abgebaut, sondern verstärkt worden.
Die Zeichen der Zeit deuteten darauf hin, dass Europa auch weiterhin der entscheidende weltpolitische Krisenherd bleiben würde. Eine andere Entwicklung war eigentlich nur denkbar, wennÿý wie später in der Zeit Joseph Austen Chamberlains, Aristide Briands und Gustav Stresemanns sowie der Rückkehr der USA in Teilbereiche der europäischen Politikÿý zur Lösung der massiven Probleme die zukunftsweisenden und nun fast verschütteten Traditionen Alteuropas mit den neuen angloamerikanischen Richtungsvorgaben konstruktiv verbunden wurden. Vor allem angesichts des deutsch-französischen Gegensatzes, der mit Versailles erneut aktiviert worden war, musste sich klären, ob und wie Europa wieder zu einer gewissen Einheit und zu seiner Mitte zurückfinden könnte. Deutschland wie Frankreich hattenÿý vom Krieg aufs Schwerste gezeichnetÿý den Bankrott ihrer Staaten nur mit Mühe abwenden können. Sie besaßen nun beide demokratische Führungen, die nicht mehr von aggressiven Volksbewegungen angeheizt wurden. Mangels einsatzfähiger Soldaten konnten sie einen Krieg gar nicht mehr führen. Nach einer Phase der Besinnung stand somit grundsätzlich der Weg zu einer konstruktiven Auslegung des Versailler Vertrages offen, wobei man lernen musste, dass der Ausbau einer allseits akzeptablen Friedensordnung viel länger dauern und viel mehr Kräfte und Opfer erfordern würde, als man erwartet hatte.
Französische Machtpolitik und deutscher Revisionismus
Die konkrete Politik lief jedoch in die entgegengesetzte Richtung, wobeiÿý den Machtverhältnissen entsprechendÿý Frankreich den aktiven Part spielte. Clemenceau hatte sich mit seinen Forderungen, angefangen bei dem Ruf nach einer »Garantie physischer Art« und endend bei dem Wunsch nach politischer Eindämmung Deutschlands, nicht voll durchsetzen können. Wie 1914 deutete Frankreich diese Situation panisch. Machtpolitisch war man zwar für den Moment, weil Mittel- und Osteuropa sozusagen »frei« von Großmächten waren, der Gewinner. Doch alles deutete darauf hin, dass Deutschland wiederkommen und seine halbhegemoniale Stellung zurückerobern oder sogar seine Position gegenüber 1914 noch verbessern würde. Die Rechnung für die Zukunft hatte viele Unbekannte, doch überall stieß man auf potenzielle oder strukturelle Vorteile Deutschlands. Man konnte die Situation drehen und wenden, wie man wollte: Mit dem ominösen Nein des amerikanischen Senats zum Versailler Friedenswerk schien dem im Krieg ruinierten Frankreich auch der Frieden ruiniert. Die Führung reagierte mit einer Rückkehr zur blanken Machtpolitik, nicht zuletzt weil die Kriegserlebnisse noch so frisch waren und Vertrauen in die Zukunft fehlte. Der Doppeltorso des Versailler Vertrages wurde in der Weise behandelt, dass die Elemente des Wilsonfriedens geflissentlich übersehen und massiv zurückgedrängt wurden. In Großmächtemanier suchte man vielmehr als Sieger seinen Tribut überall dort zu nehmen, wo dies machtpolitisch möglich war, und bisweilen dachte man sogar an eine Revision des Versailler Vertrages zu eigenen Gunsten. Das demokratische Deutschland wurde in weitere, nunmehr politische Teilkapitulationen, wie die Oberschlesienfrage zeigte, hineingetrieben. Ein von Beginn an gestörter und sogar zerstörerischer Frieden drohte Europa in ein Fiasko zu stürzen.
Das demokratische Deutschland fand in dieser Situation nicht die Kraft zum Überdenken der Situation und zum politischen Neuanfang. Es kaprizierte sich auf eine Revision des Versailler Vertrags, zu dem die latent verbliebene Großmachtposition, die fortbestehende wirtschaftliche Macht und auch die Versatzstücke eines Wilsonfriedens ermutigten. Die Nation fand in ihrem Revisionsstreben wieder zur Einheit und vergaß dabei, über die Grenzen der Großmachtpolitik, den Irrsinn des Weltkriegs und eigenes schuldhaftes Verhalten nachzudenken. Man pflegte das Trauma von Versailles und bekämpfte die Ergebnisse dieser »Veranstaltung« der Siegermächte, wobei man Wilson vorwarf, Deutschland mit einer Zusicherung, dass es einen Frieden auf der Basis der Vierzehn Punkte erhalte, in eine Falle gelockt zu haben. Weder die militärische Niederlage noch der politisch-wirtschaftliche Bankrott, zu dem man selbst viel beigetragen hatte, wurden akzeptiert. Auch das demokratische Deutschland steuerte folglich zunächst keine konstruktive Friedensordnung an, im Gegenteil: Deutschland und Frankreich schaukelten sich in einer destruktiven Politik hoch, die das durch den Ersten Weltkrieg geschundene Europa kaum ertragen konnte. ý Als perspektivisch weitaus schlimmer erwies sich, dass in dieser vordergründig im Revisionismus geeinten deutschen Nation auch die alten »Siegfriedensstrategen« von ihren Zielen nicht abließen. Die Demokraten hatten um die Risiken gewusst, als sie die Führung einer bankrotten Politik und eines bankrotten Deutschlands übernahmen. Je länger das Elend in Deutschland aber anhielt, desto mehr Chancen besaßen die im Krieg groß gewordenen Nationalisten, deren Fantasien vor der vermeintlich schon gewonnenen Marneschlacht und in den besetzten Weiten Russlands geweckt worden waren. Sie konnten darangehen, Niederlage und Not den Demokraten anzuhängen und eine Fortsetzung des Weltkriegs zu planen, wobei Deutschland weder als Obrigkeitsstaat und schon gar nicht als Demokratie antreten durfte. Vielmehr galt es, jenen Militär- und Raubstaat auszubauen, der in den Köpfen der 3. Obersten Heeresleitung schon vorgezeichnet gewesen war. Scheiterte der Versailler Vertrag, dann zeigten also auch schon Faschismus und Nationalsozialismus ihre monströsen Konturen.
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