5.1 Fehlformen auf gesellschaftlicher Ebene
In gesellschaftlicher Hinsicht ist vieles nicht so, wie es in einer demokratischen, toleranten und freien Gesellschaft sein sollte. Dies drückt sich vornehmlich durch Verlogenheiten in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus. So wird der Doktor vom Amtsrat als seinen "lieben Bruder" bezeichnet. Auch verschaffte der Amtsrat dem Bruder seine heutige Stellung als Badearzt. Dies geschah aber nicht etwa aus brüderlicher Liebe, nein der Amtsrat tat dies nur, weil er sich sonst für seinen Bruder hätte schämen müssen. Auch alle anderen "Freunde" des Doktors bleiben dies nur in guten Zeiten. Sobald es aber schwerer wird, verweigern sie ihm die Gefolgschaft und treten sogar gegen ihn los. Dies zeigt auf, wie hinterhältig die Gesellschaft ist. Denn vieles wird nur hinter verschlossener Tür preisgegeben. Verdächtigungen, z.B. vom Amtsrat betreffs den Motiven des Doktors und Intoleranz, vor allem in Bezug auf
andere Meinungen, sind genauso an der Tagesordnung wie Cliquenwirtschaft und Korruption. Viele Personen haben allergrösste Mühe, mit Kritik umzugehen. Sehr oft mangelt es an der nötigen Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit, was an der Volksversammlung klar und deutlich zum Vorschein kommt. Die Meinungen sind bereits gefasst, bevor Dr. Stockmann seine wissenschaftlichen Argumente überhaupt vorbringen kann. Zudem herrscht in der ganzen Gesellschaft eine grosse Furcht vor freier oder eigener Meinungsäusserung und eigenem Handeln. Dies veranschaulichen vor allem die Reaktionen infolge der Volksversammlung. Man hat stets Angst, man könnte etwas falsch machen, das heisst, nicht so handeln, wie die Anderen und Oberen. Dies hätte dann mehr oder weniger schmerzhafte Repressalien zur Folge.
5.2 Fehlformen in der Politik
Auf politischem Gebiet sind Ämtermissbrauch durch Kritiklosigkeit und Heuchelei stets präsent. So traut sich niemand (ausser dem Doktor), das Übel beim Namen zu nennen, weil man sich sonst all seine eigenen Chancen auf Macht und Ansehen verderben würde. Folglich können die Entscheidungen der Stadtobrigkeit nicht kritisiert werden, egal welcher Natur sie auch sein mögen. Viele Regierende können dadurch an ihren Ämtern festkleben, oder sie sogar sammeln. So ist zum Beispiel Peter Stockmann nicht nur Amtsrat, sondern zugleich auch Polizeidirektor, Vorsitzender der Kurbadverwaltung usw. Auch der so unglaublich gemässigte Buchdrucker Aslaksen ist in Sachen "Ämtleinsammeln" nicht gerade die Mässigkeit in Person. So ist er nicht nur Delegierter des Vereins für Mässigkeit, sondern gleichzeitig auch der Vorsitzende der Hausbesitzervereinigung. Und somit ist auch gleich ein weiterer Negativpunkt aufgedeckt, denn die Vereine und ihre Vorsitzenden verfügen über zu viel Einfluss. So hört man bei der Bürgerversammlung Sätze wie: "Diesmal hat der Bruder bestimmt Recht, denn weder bei der Hausbesitzervereinigug noch beim Bürgerclub wollten sie ihm einen Saal vermieten" oder "Achte nur auf den Buchdrucker Aslaksen und tu, was er macht". Des Weiteren ist auch die Meinungssteuerung durch die Presse zu kritisieren. Es kann doch nicht sein, dass alle Bürger zur Versammlung kommen und sich ihre Meinung, durch das was der Volksbote geschrieben hat, schon gebildet haben.
Die Gesellschaft in Ibsens "Volksfeind" kann voll und ganz als ein Negativ-Bild einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden.
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