Seit der Maueröffnung 1989 berichten Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen fast täglich von Verbrechen, die mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht werden. Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Heinz-Ludwig Zachert, hat erst jüngst Berlin als \"Ballungszentrum für die Großkriminalität\" bezeichnet: Vietnamesische Zigarettenschmuggler, polnische Autoschieber, russische Glücksspielbanden und Drogenkuriere aus aller Herren Länder haben Berlin zu ihrem Hauptquartier gemacht. 1991 wurden im gesamten Bundesgebiet 104.938 Einzelstraftaten der organisierten Kriminalität zugeschrieben. Vor allem aus dem Osten Europas fluten kriminelle Banden in den Westen ein, weil sie hier ihre Absatzmärkte finden.
In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll zu erörtern, ob der Begriff Mafia zur Beschreibung dieser kriminellen Banden, Syndikate und Kartelle taugt, oder ob er, weil er sich von Methoden und Strukturen der \"klassischen\" Mafia Süditaliens unterscheidet, ersetzt werden sollte. Zur Klärung dieser Frage soll dieser Artikel beitragen. Er untersucht zunächst die geschichtliche Entwicklung der Mafia auf Sizilien, um dann die momentane Situation der Kriminalität in Russland zu erörtern. Die Formen der russischen organisierten Kriminalität zeigen nämlich interessante Parallelen zu den Entstehungsbedingungen der italienischen Mafia.
2. Begriff
Erst seit Mitte der 80-erJahre wissen wir mehr über die internen Strukturen der Mafia, die komplizierten Sozialbeziehungen und das psychosoziale Klima in den Mafia-Clans. Das italienische Anti-Mafia-Gesetz (1982) und damit die konsequente Anwendung der Kronzeugenregelung in Mafia-Prozessen sowie die Arbeit verschiedener Bürgerinitiativen haben unser Wissen vertieft. Seitdem erahnen wir, wie weit der tatsächliche Einfluss der Mafia in Staat, Politik, Wirtschaft, Kultur und Sozialgefüge reicht.
Augenfällig ist, dass die Mafia in den letzten 50 Jahren im Kern ihre alten Sozialstrukturen beibehalten hat. Mafiöses Verhalten reicht weit in mittelalterlich-feudale Sozialtraditionen Süditaliens zurück. Sie sind vor allem durch soziale Immobilität, wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit sowie eine eigentümliche Auffassung von Pflichtgehorsam und Verschwiegenheit geprägt. Daher ist gerade der Zwangscharakter, den die Mitgliedschaft in der Mafia ausdrückt, ohne Kenntnis dieser sozialgeschichtlichen und mentalen Wurzeln kaum zu verstehen. Dies gilt auch für die nur scheinbar paradoxe Tatsache, dass sich zahlreiche mafiusi stets als Teil der Gesellschaft begriffen. Sie bezeichneten sich selbst als uomini d´onore, Männer von Ehre.
Es ist für die Mafia keine einheitliche Begriffsbildung erkennbar. Im Sinne eines pragmatischen Zugriffs soll deshalb zunächst die historische Entwicklung auf Sizilien, dem Kernland der Mafia, untersucht werden. Der Vergleich mit außersizilianischen Verbrechensorganisationen wird es schließlich möglich machen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen.
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