Im Anschluß an die Diaspora und die spätere Zerstörung der Tempel durch die Römer 70 n. Chr. wuchs die Bedeutung der Synagoge für das Judentum stetig. Die rein liturgische Monodie entwickelte die drei Gesangsstile der Psalmodie, Lectio und Hymnodik. Die liturgischen Texte wurden bei der Psalmodie von Priestern gesungen, wozu ein professionelles Orchester als Begleitung verzierte Versionen der gesungenen Melodien spielte. Das Singen in der Gemeinde unterlag einem antiphonischen Prinzip: Die Priester oder ein professionelles Chorensemble sangen einen Teil, die Gemeinde sang einen anderen, wobei sich der Rhythmus nach den Silbenakzenten richtete. Bei der Lectio wandelte sich die liturgische Praxis der Kantillation (Singen der Heiligen Schrift), die aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammt und von priesterlichen Musikern ausgeübt wurde, zur Aufgabe eines einzelnen Laienmitglieds der Gemeinde (etwa 1. Jahrhundert n. Chr.). Instrumentale Begleitung wurde daraufhin verboten. Die Responsorien innerhalb des liturgischen Ablaufs wurden gänzlich von den männlichen Gemeindemitgliedern übernommen. Kantillation und der Wunsch, daß sie nach den Regeln ausgeübt werden sollte, führte zu den Anfängen eines Notationssystems während des 5. Jahrhunderts n. Chr. und zur Bewahrung alten Liedgutes, z. B. bei den jemenitischen Juden. Die Forschung im Bereich des jemenitischen und babylonischen Cantus hat die enge Verwandtschaft des christlichen Sprechgesangs zu dem älteren jüdischen Modell aufgedeckt.
Neue Formen entstanden, z. B. Hymnodik und nachbiblische Gebetsmodi, die auf arabischen Metren und Rhythmen beruhten, deren Ausübung ausgebildeter Musiker bedurfte. Aus diesem Bedarf heraus entwickelte sich im frühen Mittelalter das Amt des Hazan oder Kantors.
Die vorrangige Aufgabe des Kantors bestand im Vortrag der nun komplizierteren Liturgie, die ab dem 8. Jahrhundert durch Improvisationen erweitert wurde. Über viele Jahrhunderte hinweg nahm diese Praxis in zunehmendem Maß auch Elemente nichtjüdischer Lieder als auch römisch-katholischer und protestantischer Hymnenmelodien auf und hatte eine äußerst ausgearbeitete Kanoralmelodik zum Ergebnis, die nur noch geringen Bezug zu den ursprünglichen, alten Gebetsweisen hatte.
Aus dem ornamentativen Kantorstil gingen die ekstatischen Niggunim, textlose Hymnen hervor, die in der Tradition der esoterischen, aus dem 16. Jahrhundert stammenden mystischen Lehre der Kabbala standen, sowie ihrer geistigen Nachfolge im 18. und 19. Jahrhundert, des Chassidismus. Obwohl sie aus einem Impuls einer religiösen Doktrin entstanden waren, die Wert auf den spontanen und emotional ausdrucksstarken gesanglichen Vortrag von Gebetstexten legte, degenerierten die Niggunim im Lauf der Zeit wegen der ungenauen Überlieferung sowie der unprofessionellen Versuche, die ursprünglichen jüdischen Melodien mit europäischer Kunstmusik zu vermischen. Die chassidischen Lieder und Tänze sind für die Wissenschaft von größtem Interesse.
Ab etwa dem 15. Jahrhundert trugen Volksmusikgruppen (Klezmerim) in den osteuropäischen jüdischen Ghettos bei Synagogengottesdiensten und bei weltlichen Festivitäten mittlerweile schriftlich aufgezeichnete Musik vor.
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