Aus der Zeit der Anakreontik sind drei handschriftliche Gedichtsammlungen Goethes erhalten:
1. 19 Gedichte unter dem Titel \"Annette\",
2. \"Oden an meinen Freund\",
3. \"Lieder mit Melodien\".
Der Frühstil jedes Künstlers zeigt, daß jeder die künstlerische Sprache erlernen muß. Goethe begann im Stil der Anakreontik. Die Ordnungen des Barocks wurden aufgehoben, geblieben ist nur das Rationale und Artistische dieser Epoche. Dichten bedeutete jedoch immer noch, überlieferte Motive geschickt neu zu formen. Die von Goethe vorgefundene deutsche Aufklärungsliteratur mit ihrer nüchternen und rationalen Betrachtungsweise war für lyrische Dichtungen kein guter (Nähr-)boden. Der Geist der Rokokogesellschaft war geprägt zum einen durch die Oberflächlichkeit des Gehalts, zum andern durch die geistvolle Rationalität der Form. Es ist das Formprinzip des \"Witzes\", spielerisch, gewollt, klar, überraschend, pointiert, analysierbar, unpersönlich.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim, ein Hauptvertreter der Anakreontik, schreibt 1744 in der Vorrede seiner \"Scherzhaften Lieder\": \"Schließt niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben... Denn sie schreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und sollten sie auch dadurch ihre Tugend in Verdacht setzen. Sie charakterisieren sich nicht, wie sie sind, sondern wie die Art ihrer Gedichte erfordert...\" Alles bleibt in der Sphäre des Literarischen und wird in dieser geschaffen und aufgenommen. Diese Dichtung wird heute Anakreontik genannt. Beispielsweise wird eine erotische Situation nur kurz ausgemalt und endet mit einer witzigen Wendung. Es zielt alles auf eine Schlußpointe hin. Um überhaupt dichten zu können, nahm Goethe diesen Stil auf, und während er dichtete, überwand er ihn. Das Buch \"Annette\" läßt noch keine Überwindung der Anakreontik erkennen. Die Überwindung der Kunst des Witzes wird zuerst deutlich im Bereich des Privaten und Subjektiven, vor allem in den Wärme, Stimmung und Innigkeit ausstrahlenden Briefen Goethes. Hier wird Liebe nicht als Spielerei aufgefaßt, aber die Briefe waren ja nur Mitteilungen von Tatsachen. Goethes Briefprosa dagegen, mit ihrer Stimmung und Atmosphäre weist voraus auf die wirklichkeitsnahe Bekenntniskunst, die leidenschaftliche Sprache des Sturm und Drang.
Erst in Straßburg, der nächsten Schaffensperiode der Lyrik Goethes, gelang ihm der Durchbruch des neuen Stils.
Ende März 1770 kam Goethe nach Straßburg. Im Oktober lernte er Friederike Brion in Sesenheim, einem Ort nahe Straßburg, kennen. Seine tiefe Liebe zu ihr bewegte ihn dazu, sich auszusprechen, aber er bedurfte einer anderen, nicht der gängigen Sprache. In dieser Zeit lernte er Herder kennen, dessen neue Kunsttheorie gerade das forderte, was Goethe suchte: Natürlichkeit, Einfachheit, Gefühl, Ausdruckskraft, Symbol.
Nun überwand Goethe das letzte Stück, welches ihn von der neuen Kunst noch getrennt hatte, und schuf seine ersten großen Gedichte des neuen Stils. Durch den \"Goetz von Berlichingen\", der Goethe Rang und Namen einbrachte, gab er dem deutschen Sturm und Drang von vornherein entscheidende Züge. Der bedeutendste Lyriker der damaligen Jugend wurde er durch die \"Sesenheimer Lieder\".
Die strahlende und beglückte Liebe zu Friederike, die nicht wie die in Leipzig zu Käthchen Schönkopf eine quälende Liebe war, eröffnete in ihm einen neuen Sinn für die Natur. Goethe findet nun Töne, um das Jungsein zum Klang werden zu lassen.
Der Sturm und Drang war eine Jugendbewegung. Das ganze Rokoko dagegen war höfisch-galante Spätzeit, geformt von Gesellschaftskreisen, in denen Menschen reiferen Alters den Ton angaben und die Jugendlichen in ihre Formen zwangen. So war die Sprache der Rokoko-Dichtung nicht gewillt und nicht imstande, Jugend darzustellen. Einzelheiten in Wortwahl und Motiven bleiben zunächst noch in der Anakreontik verhaftet, wie z.B. \"kleine Kränzchen\"und \"kleine Sträußchen\", \"Zephir\" und \"gemaltes Band\".
Der Übergang von der Anakreontik zum Volkslied war ein Wechsel von einem Extrem ins andere. Dort Aufbau auf eine Pointe hin, hier gefühlsmäßige Reihung; dort Bewußtsein und Literatur, hier Stimmung und Gesang; dort Galanterie und Begehrlichkeit, hier Liebe und Innigkeit; dort die Beziehung auf eine begrenzte Gesellschaftsschicht, hier auf breite Kreise vor allem schlicht empfindender Menschen.
Seit dem Frühbarock war das Volkslied aus dem Gesichtskreis der deutschen Schriftsteller ausgeschieden. Die alte Verbindung wurde wieder hergestellt durch Herder als Theoretiker und Goethe als Dichter.
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