4.1 Der Volksfreund
Dr. Stockmann ist ein allgemein beliebter und geschätzter Bürger der Stadt. Er ist Arzt und insofern haben die Leute ihm nur Gutes zu verdanken. Von ihm stammt ursprünglich auch der Plan zur Errichtung der Badeanstalt, welche zu einem allgemeinen Aufschwung und einer Verbesserung des Wohlstandes in der Stadt führt. Seine Popularität verdankt Dr. Stockmann auch den zahlreichen, wissenschaftlichen Artikeln, welche er in der örtlichen Zeitung, dem Volksboten, veröffentlicht. Er zeigt sich zudem als ein liberaler Mensch und auch seine Kinder will er zu solchen erziehen.
4.2 Ursachen des Kesseltreibens gegen Dr. Stockmann
Der Hauptgrund, wieso Stockmann plötzlich schief angesehen wird, liegt in seinem Gutachten über die äusserst bedenkliche Qualität des Wassers. Dieses Gutachten schädigt nicht nur den guten Ruf der Stadt, nein auch die willkommenen Einnahmen drohen zu verschwinden, da der Bau neuer Wasserleitungen den Kurbetrieb für mindestens zwei Jahre zum erliegen bringen würde. Kommt noch hinzu, dass der Bau neuer Wasserleitungen ein sehr kostspieliges Unterfangen ist, welches die Stadtkasse und die Steuerzahler über die Massen beanspruchen würde. Die Kritik an der lokalen Obrigkeit, indem er sagt, er habe schon vor dem Bau der Wasserleitungen, so wie sie jetzt stehen, gewarnt und mit negativen Nebenwirkungen gerechnet, stösst in der Bevölkerung auch sauer auf, da sie besserwisserisch wirkt.
Dr. Stockmanns Offenherzigkeit gegenüber den Journalisten ist ein zweiter Grund für das Kesseltreiben gegen ihn. Er wird für Hovstads Zwecke missbraucht. Die bestehen darin, dass er sich schon lange an der Stadtobrigkeit rächen und ihr eins auswischen will, weil diese Leute gegen seine Zeitung sind. Er will Stockmanns Artikel nicht aus Überzeugung, sondern viel mehr aus Wut drucken. Komm noch hinzu, dass Hovstad in Dr. Stockmanns Tochter Petra verknallt ist und hofft, mit dem Gefallen, den er ihrem Vater erweist, kommt vielleicht auch wieder etwas zurück. Bezeichnenderweise durchschaut Petra aber das Spiel. So fällt für Hovstad ein Grund weg, den Artikel zu drucken. Aufgrund seiner schlechten Menschenkenntnis merkt Dr. Stockmann nicht, dass Hovstad aus reinem Opportunismus heraus handelt und nimmt sein revolutionäres Gerede für bare Münze. So wird er von ihm auch im Stich gelassen, weil Hovstad erfahren hat, dass auch er als Steuerzahler für einen Wasserleitungsneubau bezahlen muss und der gute Ruf der Stadt dahin wäre, wenn er den Artikel druckt. Es bringt Hovstad also mehr Vorteile, wenn er den Artikel nicht druckt, und darum druckt er ihn auch nicht.
Dr. Stockmanns Konflikte mit seinem Bruder und Amtsrat wirken sich ebenfalls negativ auf sein Ansehen aus. Die beiden Brüder sind charakterlich von Grund auf verschieden (=> vgl.3). Dieser neuerliche Streit um das Gutachten und dessen Folgen lassen sie nun vollends zu Feinden werden. Als Amtsrat hat Peter, der Bruder, alle Vorteile auf seiner Seite und kann somit den Druck auf Dr. Stockmann sukzessive erhöhen. Zuerst fordert er, dass der Doktor schweigt, dann verlangt er den Widerruf seines Gutachtens und zuletzt droht er sogar mit Entlassung. Diese Querelen mit einer hochrangigen Amtsperson sind natürlich für das Ansehen von Dr. Stockmann in der niederen Gesellschaft, welche in der Mehrheit ist, auch nicht gerade förderlich.
4.3 Der Volksfeind
Die vielen Angriffe in Dr. Stockmanns Rede vor der Volksversammlung machen ihn nun zum Volksfeind. Er weicht von der Sache ab und spricht "über etwas ganz anderes". Er kritisiert in seiner Rede eigentlich alle Volksgruppen. Er geht gegen die Konservativen und Gestrigen vor, gegen die Liberalen, welche das Volk verführen und gegen die Bürger und ihr Massendenken.
Stockmann geht es in seiner Rede um "grosse Enthüllungen". Er ist zu der Erkenntnis gekommen, dass eine schlimmere Vergiftung im Gange ist. Er stellt die These auf: "das ganze geistige Leben ist vergiftet, die ganze bürgerliche Gesellschaft steht auf dem pestschwangeren Grund der Lüge".
Zur eigentlichen Anklage kommt es erst später. Er klagt die leitenden Männer an, da sie einem freien Manne im Wege stehen. Persönlich geht er gegen seinen Bruder vor. Der wirklich gefährliche Feind der Freiheit und der Wahrheit sei aber, so sagt Dr. Stockmann "diese verfluchte kompakte liberale Majorität".
Im Hauptteil der Rede legt er die Gründe für seine Behauptung dar:
1. Die Mehrheit hat zwar die Macht auf ihrer Seite, nie aber das Recht, welches bei den weniger zahlreichen Klugen liegt. Diese Klugen stehen auf "Vorposten" und kämpfen für die "jungen, keimenden Wahrheiten". Diese Wahrheiten sind aufgrund ihrer Jugendlichkeit aber noch nicht in der Mehrheit der Köpfe verwurzelt.
2. Der Einzelne, der klar sieht, muss Krieg führen gegen die Gesellschaftslüge und für die neuen Wahrheiten. Nur die alten, abgedroschenen Wahrheiten finden eine Mehrheit. Dr. Stockmann fügt an, dass eine Wahrheit höchstens zwanzig Jahre leben kann. Nachher ist sie ungeniessbar und führt zu "moralischem Skorbut". Was die Masse heute als "sichere Wahrheiten" ansieht sind Wahrheiten, die aus Grossvaters Zeiten stammen. Nur dank mutiger Vorkämpfer aber hätten diese alten Wahrheiten heute ihre Gültigkeit.
3. Stockmann nennt einige der veralteten Wahrheiten (dass die Menge, der grosse Haufen, der Kern des Volkes sei; dass der geistig Unreife das gleiche Recht auf Mitbestimmung habe wie der Vornehme und Freie).
Eine Irrlehre ist zum Schluss auch noch zu widerlegen. Dr. Stockmann ist der Auffassung, dass es falsch ist zu sagen, dass nur der einfache Bürger Moral besitzt und geistiger Schmutz und Verdorbenheit seien eine Folge der Kultur. Er zeigt auf, wie sich die liberalen Journalisten des Volksboten selbst widersprechen. Der Volksbote preist einerseits das einfache Leben als einzig moralisch und fordert gleichzeitig, dass die Masse zu höheren Lebensbedingungen geführt werden müsse.
Solche Aussagen und die finalen Angriffe gegen die Obrigkeit veranlassen die Bürger Dr. Stockmann offiziell als Volksfeinden zu betiteln. Dr. Stockmanns Tragik besteht darin, dass er in dem Augenblick als Volksfeind verfemt wird, in welchem er als Freund des Volkes den Menschen die Augen über den an ihnen verübten Betrug öffnen will.
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