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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Die sogenannte vorkritische philosophie kants



Während seine Habilitationsschrift («Nova dilucidatio») noch weitgehend unselbständig war, stieß Kant in den sechziger Jahren immer deutlicher zu einerselbständigen philosophischen Auffassung vor, ohne jedoch den Standpunkt der kritischen Philosophie zu erreichen. In diesem - und nur in diesem Sinne \" pflegt man sein Denken während der sechziger Jahre *vorkritisch* zu nennen. Dieser Ausdruck bedeutet nicht, daß Kant in dieser Zeit ein unkritischer Denker gewesen wäre, sondern lediglich, daß er noch nicht den Standpunkt des Kritizismus bzw. der Transzendentalphilosophie erreicht hatte.

In der Schrift über den «Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes* vertrat Kant die Ansicht, daß ein Gottesbeweis möglich sei, obwohl er den ontologischen Beweis in seiner auf Descartes zurückgehenden Form (siehe Teil IV, Kap. l, id) mit der Begründung verwarf, daß «Existenz» keine Vollkommenheit, bzw. überhaupt keine Eigenschaft in dem Sinne sei, in dem ~Weisheit* oder «Güte» Eigenschaften sind. Eigenschaften gehören zum Inhalt von Begriffen, während die Existenzbehauptung den Umfang eines Begriffs betrifft. So kann man als Inhalt des Begriffs « gleichseitiges Dreieck* die Bestimmungen ~Vieleck* und «Winkelsumme von I800, betrachten; fragt man dagegen, ob gleichseitige Dreiecke existieren, geht es darum, ob etwas unter diesen Begriff fällt bzw. ob sein Umfang nicht leer ist. Wenn die Verfechter des ontologischen Gottesbeweises glaubten, durch Analyse des Inhalts des Gottesbegriffs zeigen zu können, daß der Umfang dieses Begriffs nicht leer ist - d.h~daß Gott existiert -, dann übersahen sie) daß die Existenzfrage grundsätzlich nicht auf der Ebene der Inhaltsanalyse entschieden werden kann und erlagen daher einem Mißverständnis. Obwohl derontologische Gottesbeweis scheitert, hielt Kant aber einen Gottesbeweiß Für möglich, wieder Titel der Abhandlung andeutet. Seine Überlegung verläuft folgendermaßen: Wenn man zu denken versucht, daß nichts existiert, dann scheitert der Versuch, denn «denken» heißt immer «etwas denken*. Das Gedachte muß nicht wirklich sein - wir können Unwirkliches denken, wie einen Zentauren-, aber es muß als Gedachtes doch möglich sein. Die Möglichkeit besteht darin, daß irgendwelche Inhalte miteinander widerspruchsfrei verbunden sind; letzten Endes läßt sich die Möglichkeit als Beziehung zwischen einfachen, somit nicht weiter analysierbaren Inhalten (den «Data der Möglichkeit*) auffassen. Diese Data müssen exstieren) wenn von «Möglichkeit» die Rede sein soll. Leugnet man, dass irgendetwas existiert, leugnet man auch die Existenz der einfachen Data und hebt alle Möglichkeit auf, so daß sich nichts mehr denken ließe) während doch davon ausgegangen wurde, daß wir etwas denkest* Da der Versuch, alle Existenz aufzuheben, scheitert) muß anerkannt werdet dass etwas existierte Die Möglichkeiten müssen in etwas Wirklichem verankert sein, das aller Möglichkeit zugrunde liegt und nicht mehr aufgehoben werden kann, somit notwendigi st, d.h. in Gott, dessen Dasein somit bewiesen ist* Mit dem Glauben an die Beweisbarkeit eines notwendigen Grundes aller endlichen Wesen blieb Kant 1762 noch unübersehbar der rationalistischen Denkweise verhaftet.

Im "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen» (1763) stieß Kant zu der wichtigen Einsicht vor, daß zwischen logischem Grund und &ealgrund (oder Ursache) unterschieden werden müsse. Die Vertreter der rationalistischen Metaphysik hatten diesen Unterschied vernachlässigt, wie sich in der ihnen geläufigen Wendung «Grund bzw. Ursache* (ratio sive causa) zeigt. Die rationalistische Auffassung beruht auf der Voraussetzung, daß zwei Vorgänge nur dann als ~Ursache-und ~Wirkung bezeichnet werden dürften, wenn der Begriff der ersteren den Begriff der letzteren enthält Das bedeutet) daß aus dem vollständige Begriff der Ursache die Wirkung gefolgert werden kann, ohne daß man sich auf Beobachtungen zustutzen brauchte. Indem Kant eine scharfe Trennung zwischen der Grund-Folge-Beziehung und der Ursache-Wirkungs-Beziehung vornahm, trat er somit der rationalistischen These entgegen, daß es prinzipiell möglich sei, unabhängig von der Erfahrung -durch reine Vernunft- Kausalzusammenhänge zu erkennen* Da für die rationalistische Metaphysik der Anspruch wesentlich war, Züge der Wirklichkeit unabhängig von Beobachtungen erfassen zu können, bedeuteten Kants Überlegungen von 1763 einen Angriff auf diese Art von Metaphysik.

Mit dem Problem der Metaphysik, näherhin mit der Frage, welchen Grad von Gewißheit metaphysische Urteile haben, setzte sich Kant auch in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral* auseinander, und zwar von einem empirischen Standpunkt aus: «lch werde ... sichere Erfahrungssätze und daraus gezogene unmittelbare Folgerungen den ganzen Inhalt meiner Abhandlung sein lassen" wie er erklärte. Die philosophische Methode ist von der mathematischen unterschieden, weil man in der Philosophie, anders als in der Mathematik, nicht von einer kleinen Anzahl von Grundbegriffen und Grundsätzen ausgehen kann, um nach dem Vorbild von Euklids Elementen der Geometrie* (more geometrico) Lehrsätze abzuleiten, wie es z.B. Spinoza versucht hatte (siehe Teil IV, Kap. l, 4b). Mit der Ablehnung der für die rationalistische Metaphysik typischen Darstellungsform unterstrich Kant seine Distanz gegenüber der Tradition, aus der er hervorgegangen war. Anstatt an der Methode der Mathematik sollsich die Philosophie am Vorgehen der Physik orientieren: «Die echte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Gründe einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren Folgen war. Man soll, heißt es daselbst, durch sichere Erfahrungen, allenfalls mit Hilfe der Geometrie, die Regeln aufsuchen, nach weichengewisse Erscheinungen der Natur vorgehen.» Wenn aber zwischen Philosophie und Naturwissenschaft kein methodologischer Unterschied besteht, können die beiden Disziplinen nur durch ihre Gegenstandsbereiche unterschieden sein: Die Philosophie hat es mit den Erscheinungen des Bewußtseins zu tun, während die Naturwissenschaften äußere Erscheinungen untersuchen. Das scheint in die von Hume eingeschlagene Richtung zu weisen, doch wollte Kant im Gegensatz zu Hume philosophische Sätze nicht in Sätze der Psychologie übersetzen. Zwar war er sich um die Mitte der sechziger Jahre mit Hume in der Ablehnung der traditionellen Metaphysik einig, aber eine klare selbständige Auffassung der Metaphysik hatte er noch nicht entwickelt.

Einer verbreiteten Deutung zufolge kam Kant der Humeschen Position in den «Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik* (1766) am nächsten; bei genauerem Zusehen zeigt sich )edoch, daß er damals schon Auffassungen vertrat, die sich auch in seiner reifen Philosophie finden. Anlaß der Schrift waren Berichte über Emanuel Swedenborg (1688-1772), den «Erzgeisterseher unter allen Geistersehern*, wie Kant ihn nannte.\" Swedenborg soll über telepathische Fähigkeiten verfügt haben, und er beanspruchte, mit einem Geisterreich jenseits der Welt der Dinge in Verbindung zu stehen. Kant sah in diesem Anspruch ein Seitenstück zum Glauben der spekulativen Metaphysiker an die Erkennbarkeit einer transzendenten Realität. Ihm ging es aber nicht darum, die Metaphysik als solche zu überwinden; er räumte ein, in sie verliebt zu sein, ja er gestand ihr sogar einen gewissen Nutzen zu: Sie enthüllt zwar nicht verborgene Eigenschaften der Dinge, aber sie läßt erkennen, «ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen. Insofern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft».

Auch die Möglichkeit telepathischer Phänomene wollte Kant nicht in dogmatischer Weise leugnen, sondern er fragte, wie eine nicht durch Zusammenhänge der körperlichen Welt vermittelte Kommunikation zwischen Geistern begreiflich zu machen wäre. Die Annahme, daß es tatsächlich telepathische Erfahrungen gebe, genügt nicht; entscheidend ist, ob es eine Erklärung der behaupteten Tatsache gibt. Die vorgebliche Verbindung zwischen angenommenen geistigen Substanzen kann aber nach Kant in keiner Weise erklärt werden, und dies reicht aus, um sie in Frage zu stellen. Bemerkenswert ist vor allem, daß hier schon die für die kritische Philosophie typische Ansicht wirksam ist, daß wir Erkenntnis nur von etwas haben können, was mit Beobachtungen raum-zeitlicher Gegenstände zusammenhängt. Zum Glauben an rein geistige Wesen, namentlich an die menschliche Seele, können allenfalls moralische Gründe veranlassen, doch darf eine solche moralisch bedingte Überzeugung nicht als Erkenntnis betrachtet werden. Kants spätere Auffassung, daß die Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt sei und erfahrrungsjenseitige Zusammenhänge nur als Gegenstände (vernünftigen) Glaubens gelten könnten, kündigt sich hier schon deutlich an.

Die Entwicklung der Kantischen Philosophie während der sechziger Jähre ist somit nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß Kant wichtige rationalistische Thesen preisgab, sondern auch dadurch, daß er nach und nach zu Auffassungen vorstieß, die für die lsritische Philosophie kennzeichnend sind, z.B. daß es keine prinzipiell von der Anschauung unabhängige Erkenntnis gebe, daß die Philosoplue die Aufgabe habe, den Bereich des Erkennbaren gegenüber dem des Unerkennbaren abzugrenzen, daß wissenschaftliche Aussagen über Transzendentes unmöglich seien und daß von Gott und der Seele nur im Sinne von Inhalten eines vernünftigen, moralisch bedingten Glaubens gesprochen werden könne.

Damit hatte sich eine Menge geistigen Sprengstoffs angesammelt; es bedurfte nur noch des zündenden Funkens, um gleichsam das alte philosophische System zu sprengen. Dies geschah 1769 in einer Einsicht, die nicht nur die Haltlosigkeit der älteren (~dogmatischen*) Metaphysik in prinzipieller Weise sichtbar werden ließ, sondern zugleich den Horizont einer neuen philosophischen Position eröffnete. Kant sprach sehr allgemein von einem großen Licht, das ihm das Jahr 1769 gebracht habe,~ jedoch ohne zu sagen, was sich ihm in diesem Licht zeigte. Man kann jedoch, gestützt auf gewisse Andeutungen Kants, vermuten, daß kosmologische Probleme im Spiele waren. Kant hatte im Zusammenhang mit den Fragen nach Anfang und Grenzen der Welt bemerkt, daß der Anspruch, einerseits die Anfangslosigkeit andererseits die Notwendigkeit eines Anfangs der Welt bzw. einerseits die räumliche Grenzenlosigkeit, andererseits die Begrenztheit des Kosmos beweisen zu können, jeweils auf gute Gründe gestützt ist, so dass eine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Auffassung nicht möglich zu sein scheint, obwohl nur eine von ihnen richtig sein kann< Ein Ausweg aus dieser Situation läßt sich finden, wenn man annimmt, dass «Welt» gar keinen Gegenstand bezeichnet, der im Raum und in der Zeit existiert, sondern den ungegenständlichen Gedanken der Einheit raum-zeitlicher Gegenstände bedeutet. Fragen nach Anfang und Grenzen der Welt erweisen sich daher buchstäblich als gegenstandslos.

Wenn «Welt» - und ähnliches gilt für «Gott» und «Seele» nicht als Gegenstand von der Art anschaulicher Gegenstände gelten kann, dann ist der rationalistische Versuch zurückzuweisen, die Inhalte der speziellen Metaphysik - Gott, Welt und Seele - so zu behandeln, als wären sie Dinge, die wie andere Dinge erkannt werden können. Gleichzeitig wurde Kam klar, daß der Raum (und Analoges gilt für die Zeit) weder ein Beziehungsgefüge zwischen Dingen noch eine für sich beatmende Quasi-Substanz, sondern ein subjektives Schema sei, mit dessen Hilfe das Ich Eindrücke ordnet und so raum-zeitliche Gegenstände der Anschauung erzeugt.

Diesen Standpunkt nahm Kant in der Inaugural-Dissertation von 1770 ein. Der Raum (der hier allein berücksichtigt werden soll) ist nicht sozusagen ein objektives Behältnis, in dem sich die Dinge befinden, wie Newton gemeint hatte; er ist aber auch keine verworrene Vorstellung, wie Leibniz angenommen hatte, nach dessen Ansicht der Raum die Art ist, in der die Beziehungen zwischen einfachen Substanzen sinnlich erscheinen. Würden nämlich räumliche Verhältnisse nur verworren vorgestellt, dann wäre nicht zu begreifen, wie die klaren und distinkten geometrischen Sätze auf Gegenstände der Anschauung angewendet werden können. Da dies faktisch geschieht, muß vorausgesetzt werden, daß anschauliche Zusammenhänge ebenso deutlich sind wie die Beziehungen, mit denen es die Geometrie als rationale Wissenschaft zutun hat. Dies wiederum ist nur möglich, wenn angenommen wird, daß die räumlichen Gegenstände nicht durcheine unüberbrückbare Kluft von den Begriffen der Geometrie getrennt sind, wie es der Fall wäre» wenn sie unabhängig von unserem Denken existierten. Um begreiflich zumachen, wie es möglich ist, daß geometrische Sätze auf anschauliche Gegenstände angewendet werden, muß man daher annehmen, daß die Gegenstände Denkinhalte sind, die vom Subjekt nach jenem Schema erzeugt wurden, das auch der Geometrie zugrunde liegt, nämlich dem Ordnungsschema des Raumes. Dies ist gemeint, wenn die räumlichen Gegenstände als Erscheinungen bezeichnet werden (und Analoges gilt für zeitlich bestimmte Gegenstände). Da die räumlichen Gebilde nach denselben Prinzipien konstruiert sind, die den Axiomen der Geometrie zugrunde liegen, müssen diese Axiome und alles, was aus ihnen folgt (die geometrischen Lehrsätze) auf die Gegenstände (als Erscheinungen) angewendet werden können. Die interobjektive Allgemeingültigkeit geometrischer Sätze ist

Gegenüber dem soeben angedeuteten Standpunkt wirkt es wie ein Rückfall in die Denkweise der älteren Metaphysik, wenn Kant in der Inauguraldissertation noch eine von der raum-zeitlichen Anschauung unabhängige Erkenntnis der Wirklichkeit selbst für möglich erklärte, wenn auch als symbolische- d.h. unanschauliche - Erkenntnis. Begriffe wie«Dasein», «Substanz», «Ursache» lassen sich auf Dinge an sich beziehen, weil sie nicht der Erfahrung entstammen, sondern ursprüngliche Formen des Geistes sind. Kant ist 1770 auf halbem Wege stehengeblieben, wenn er raum-zeitliche Bestimmungen der Erscheinung, Kategorien wie «Substanz» und «Ursache» aber dem An-sich der Dinge zuordnete. In den folgenden Jahren vollzog er die noch ausstehenden Schritte, die schließlich zu der Auffassung führten, daß Gegenstände unabhängig von der Beobachtung - aus reiner Vernunft - nicht erkannt werden könnten, so daß ein Wissen von den Dingen, wie sie an sich sein mögen, als ausgeschlossen erscheint.

Die Frage, wie sich Begriffe des Verstandes auf Dinge beziehen können, veranlaßte Kant zu einer Revision seiner Auffassung, die ihn zehn Jahre in Anspruch nahm. Anstatt, wie er zunächst geplant hatte, die Abhandlung von 1770 in erweiterter Fassung alsbald neu herausgeben zu können, schuf er ein Werk) das weit über die Inauguraldissertation hinausging, nämlich die « Kritik der reinen Vernunft*.

 
 

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