Legenden gibt es in den verschiedensten Kulturen und auch außerchristlichen Religionen. Für das Christentum ist sie vor allem wegen der Heiligenverehrung so bedeutsam geworden.
Scheint die Heiligenverehrung auf den ersten Blick Widerspruch zum monotheistischen Charakters des Christentums zu sein, hat sie bei näherer Betrachtung doch ihre Berechtigung. Gläubige traten mit kleinen Bitten und Anliegen nicht gerne unter das Angesicht Gottes, sie vertrauten sie lieber Heiligen an, in deren Bilder sich die Jenseitsvorstellungen kongretisierten. Auch Märtyrer, die laut des Glaubens direkt zu Gott emporsteigen, wurden immer schon gerne um Fürbitte bei Gott gebeten. Alsbald fand die Heiligenverehrung ihren Niederschlag in der Liturgie, in Messe und Brevier. Täglicher Kontakt mit den Heiligen gehörte zu den Selbstverständlichkeiten spätmittelalterlichen Lebens.
Es waren meistens Wunder, die die Verehrung von Heiligen hervorriefen und verbreiteten. Dabei spielte die historische Existenz und die kirchliche Beglaubigung der Heiligen und derer Wunder zunächst eine eher geringe Rolle, das Volk war großzügig in der Wahl seiner Heiligen. Gelegentlich wurden auch erdichtete Gestalten mit einem allzu vorbildlichen Leben zu Heiligen erhoben. Um dem Einhalt zu gebieten, hat sich die Kirche um 950 allmählich eingeschaltet und Kanonisierungsverfahren eingeführt, die seither der Erhebung zum Heiligen vorausgehen. Bis heute jedoch ist der Nachweis der Wundertätigkeit des betreffenden Heiligen feste Voraussetzung für jede Heiligsprechung.
Mit dem aufkommenden Bild- und Reliquienkult verknüpften sich auch Geschichten über Gebetserhörungen, die die Macht des Heiligen bezeugen und bestätigen. Neben den Votivbildern, die man oft an Wallfahrtsstätten findet, hielten vor allem die "Mirakelbücher" Begebenheiten solcher Art fest. Wurden Gebetserhörungen auch als eigene Erzählung oder als Anhang zu der Legende des Heiligen weitergegeben, spricht man von "Mirakelerzählungen".
Der rasante Aufstieg der Heiligenlegende, laut Ingeborg Glier, "Reflex und zugleich Verbreitungsmedium des Heiligenkultes" , entsprang dem Wunsch, über das Leben heiliger Personen Näheres zu erfahren und dabei die altbekannten religiösen Leistungen "in einem heiligenmäßigen Vorleben sinnvoll vorgebildet zu sehen" . So sind die wunderreichen Geschichten von der Geburt und Kindheit Christi im Evangelium die ältesten christlichen Legenden, die wir kennen.
Im Zuge der literarischen Verarbeitung der Heiligenleben wurden die historischen Begebenheiten der Märtyrer und Heiligen dichterisch überarbeitet und mehr oder weniger ausgeschmückt. So schöpfte die Legende gerne aus orientalischen Quellen und aus dem hellenistischen Roman und griff selbst Märchenmotive oder mythische Motive auf, ohne damit jedoch den christlichen Charakter der Erzählung zu beeinträchtigen.
Die lateinischen Heiligenviten sind zwar ursprünglich einzeln entstanden, wurden aber in variablen Sammlungen, den "Legendaren", vereinigt, in deren Vor- und Nachworten der Herausgeber sich häufig äußerte, wie der Leser die Geschichten aufzunehmen habe und welchen Gebrauch er von ihnen machen sollte. In Bezug auf die Legendare brachte das 13. Jh. eine einschneidende Neuerung. Vereinten die bisherigen Legendare Originallegenden verschiedener Herkunft ohne redaktionelle Eingriffe, wurde der neue Typ dadurch konstituiert, dass die einzelnen Beiträge für die Sammlung nach einheitlichen Gesichtspunkten redigiert und verkürzt wurden.
Dem "populär-hagiographischen Anliegen" der Predigerorden entsprangen die "Kurzlegendare", die hagiographische Stoffe möglichst vollständig auch außerhalb des klösterlichen und liturgischen Bereichs literarisch allgemein zugänglich machen wollten. Das meistverbreitete Werk des 13. Jh. war dabei zweifellos Jacob de Voragines Legenda Aurea, auf die im Zuge dieser Arbeit noch genauer einzugehen sein wird.
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