Die neu entstandene Tschechische Republik bemühte sich um einen schnellen Beitritt zur EU und zur NATO. Seit 1993, kurz nach dem Zerfall, war Tschechien bereits Mitglied des Europarates. Auch ein Assoziierungsantrag mit der EU und das NATO-Programm "Partnerschaft für den Frieden" wurden im selben Jahr unterzeichnet. Der deutsch-tschechische Vertrag über die "gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit", der auch nach dem Zerfall der Tschechoslowakei weiterbestand, diente zur "Normalisierung" und Versöhnung der beiden Länder. Doch die Frage der Sudetendeutschen blieb noch immer ungeklärt.
Das Thema wurde erst in dem vom europäischen Parlament verabschiedeten "Posselt-Bericht" über die Auswirkung der Osterweiterung auf die Bereiche Justiz und Inneres von 1998 wieder aufgegriffen. Darin wurde die Rechtstaatskriterien ausgearbeitet, die von den Kandidatenländern eingehalten werden mussten, um die Beitrittsgenehmigung der EU zu erhalten. Manche der Benes-Dekrete wurden für widerrechtlich erklärt.
Das Prager- Parlament äußerte sich 1999 zu den "Benes-Dekreten". In der "Entschließung zum Bericht der Kommission über die Fortschritte der Tschechischen Republik auf dem Weg zum Beitritt" hieß es wörtlich: "Das Europäische Parlament... fordert die tschechische Regierung im Geiste gleichlautender versöhnlicher Erklärungen von Staatspräsident Havel auf, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen." Auch von der SPÖ, der ÖVP und der FPÖ wurde in einem parlamentarischem Drei-Parteien-Beschluss die Aufhebung der umstrittenen Dekrete verlangt: "Die Bundesregierung wird ersucht, weiterhin im Verbund mit den anderen Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union auf die Aufhebung von fortbestehenden Gesetzen und Dekreten aus den Jahren 1945 und 1946, die sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei und im ehemaligen Jugoslawien beziehen, hinzuwirken." Auch im Koalitionspakt der ÖVP und der FPÖ von 1999 wird die Aufhebung der Benes-Dekrete zur Bedingung für den EU-Beitritt Tschechiens gemacht.
Tschechien reagierte mit dem Vorwurf an die österreichische Regierung, die Rechtskontinuität Tschechiens in Frage zu stellen. Der Vorsitzende der regierenden Sozialdemokraten, Vladimir Spidla, erklärte, es handle sich um eine Entscheidung des österreichischen Parlaments und betreffe deshalb lediglich die Regierung der Alpenrepublik. Spidla fügte hinzu: \"Für mich ist entscheidend, dass die Dekrete nicht vom Himmel gefallen sind. Diese Entnazifizierungsgesetze sind Folgen des zweiten Weltkriegs. Ich halte es für schlichtweg unmöglich, ständig weiter darüber zu verhandeln.\" Viele Experten in Tschechien befürchten, dass das "Fundament" der tschechischen Verfassung ins Wanken geraten würde, wenn einzelne Dekrete für ungültig erklärt würden.
Im August 2000 sprach sich der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ) abermals gegen den Beitritt Tschechiens zur EU aus. Er bezeichnete die immer noch nicht aufgehobenen Benes-Dekrete als "eklatanten Verstoß gegen die Prinzipien des Menschen- und Völkerrechts" und kündigt an, dass Österreich sowohl wegen dem unsicheren Atomkraftwerk in Temelìn und der Benes-Dekrete den EU-Beitritt Tschechiens blockieren werde. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft forderte sogar die Rückgabe des konfiszierten Eigentums.
Während der Eintragungswoche für das "Anti-Temelìn-Volksbegehren" bezeichnete der tschechische Premierminister Milos Zeman die Sudetendeutschen als "fünfte Kolonne Hitlers", die an der "Zerstörung der Tschechoslowakei als einziger Insel der Demokratie in Mitteleuropa" beteiligt gewesen sei. Damit sprach er sich auch gegen die 38 000 Personen aus, die sich in der Tschechoslowakei zur deutschen Minderheit zählten.
In der Folge bat Bernd Posselt als Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft die tschechische Bevölkerung um Verzeihung für die Verbrechen, die von Sudetendeutschen im Zweiten Weltkrieg an Tschechen begangen worden waren. An den \"Schandtaten des verbrecherischen (NS-)Regimes\" hätten sich Sudetendeutsche beteiligt, zitierten Prager Tageszeitungen aus einem Interview des tschechischen TV-Senders CT mit Posselt. Im Fall von Rückgabeforderungen an Prag könne er aber nicht für alle Sudetendeutschen sprechen, unterstrich Posselt. Im Namen seines Verbandes sprach er sich für "ein Recht auf Heimat" und nicht für "ein Recht auf Eigentum" aus. Die Benes-Dekrete nannte er jedoch "rassistisch", da die tschechoslowakischen Gesetze, die nach dem Krieg erlassen wurden, nicht nur durch die Verbrechen der Deutschen während des Krieges, sondern auch durch die Verbrechen der Ungarn an tschechoslowakischen Staatsbürgern entstanden waren. Doch das Prager Parlament erklärte in einer Resolution einstimmig, dass die Benes-Dekrete "nicht anzweifelbar, unantastbar, und unveränderlich" wären. Sie seien, laut Prager Parlament, als Folge der Niederlage des Nazismus entstanden. Heute könnten daher, auf der Grundlage der damals realisierten Gesetze, keine neuen Rechtsverhältnisse entstehen. Auch die tschechischen Staatsbürger sprachen sich in einer Meinungsumfrage am 25. Mai 2002 zu 70% für die Beibehaltung der Benes-Dekrete aus.
Bei einem Treffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft kritisierte CDU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber die tschechische Regierung: "Wer noch im Jahr 2002 Vertreibung und Entrechtung verteidigt, muss sich von den Europäern fragen lassen, wie europatauglich er ist." Zudem bezeichnete er die Anliegen der Heimatvertriebenen als nicht ausreichend von der Regierung vertreten. Innenminister Schily von der SPD legte der tschechischen Regierung zwar nahe, die Benes-Dekrete aufzuheben, er sah jedoch keinen Zusammenhang mit dem Beitritt Tschechiens zur EU.
Bei einem Ausschuss im Europaparlament wurde das Thema Benes-Dekrete noch einmal behandelt. Man kam zu dem Schluss, dass die Aufhebung essentiell sei, wenn die Dekrete dem europäischem Recht widersprechen. Im Ausschussbericht hieß es wörtlich: "Sollte die tschechische Rechtsordnung auf Grund der Dekrete noch immer diskriminierende Forderungen enthalten, so müssen diese vor dem Beitritt Tschechiens in die EU aufgehoben werden."
Die Frage der Benes-Dekrete wird zweifelsfrei noch weitere Generationen beschäftigen und auch nach dem Beitritt Tschechiens zur europäischen Union viele Diskussionen auslösen.
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