Verhaftung
Chas Kelfeit, ein in Wien wohnender Jude, hatte eine Frau und zwei Kinder. Er war in der "Kunst- und Kulturstadt" Wien geboren worden und ging hier zur Schule. Sein Bekanntenkreis umfasste Menschen aller Konfessionen und Stände.
Kelfeit besaß ein Geschäft in der Glockengasse 5. Nach dem Umbruch, als sämtliche jüdischen Geschäfte von SS-Leuten geplündert wurden, wurde auch sein Geschäft nicht ausgelassen. Ein Lastwagen der Ankerbrotfabrik blieb vor der Eingangstür stehen. Einige Leute fragten nach einer "freiwilligen Spende", während sie sich ohne zu fragen bedienten. Sie nahmen zwei Stück Matratzengradl und 20 kg Spagat mit sich. Da es Ariern strengstens verboten war, bei Juden zu kaufen, lief das Geschäft zusehends schlechter. Da viele Kunden jedoch weiterhin bei Kelfeit kaufen wollten, wurde er telefonisch verständigt, die Waren zu einem ausgemachten Treffpunkt zu bringen, um jene heimlich zu übergeben.
Als die immer brutaler und gräßlicher werdenden Qualen der Juden begannen, wurde auch Kelfeit zum Plakate kleben herangezogen. Dem Straßenputzen konnte er entgehen ebenso den Selbst-Beschimpfungen, da er die Tür nicht öffnete oder nicht zu Hause war. Am Sonntag, 19. März, ging er mit seinen beiden Kindern spazieren. Er nahm beim Spazieren immer seine Kinder mit, um den Arbeiten zu entgehen. Wurde er angehalten, so sagte er, dass er die Kinder nach Hause bringen müsse.
Am Sonntag, 19. Juli, war er und seine Familie zu Gast bei seiner Schwester Gusti, als plötzlich eine Razzia veranstaltet wurde. Nach einer erfolglosen Hausdruchsuchung, wurde Kelfeit, seine Schwester und seine Kinder auf die Wachstube Castellezgasse gebracht, wo der Bezirksinspektor ihre Nationale aufnahm. Hierauf wurden sie auf das Polizeikommissariat Leopoldsgasse überstellt. Nachdem sie dort um zwölf Uhr eingetroffen waren, sagte der Oberkommissar zu seinem Helfer, als er erfahren hatte, dass es sich um Juden handle: "Die Jüdin in den Arrest und ihn wissen Sie schon". Vorläufig wurde Kelfeit in einer Zelle mit acht bereits belegten Pritschen untergebracht. Dabei handelte es sich um Bekannte aus seiner Umgebung. Nach einiger Zeit wurde er geholt, um Fragen zu beantworten. Der Zweck war, mittels Fangfragen einen Grund zu finden, ihn ins KZ Dachau zu verschicken. Die Fragen lauteten wie folgt:
Waren Sie bei der Sozialdemokratischen Partei?
Waren Sie bei der Vaterländischen Front?
Haben Sie Steuerschulden?
Haben Sie Geschäftsschulden?
Haben Sie jemals Rassenschande betrieben?
Sind in Ihrer Familie Abtreibungen vorgenommen worden?
Ist jemand in Ihrer Familie homosexuell veranlagt?
Nach und nach kamen neue Inhaftierte, sodass mittlerweile zwölf Personen auf acht Pritschen mit acht Decken in einer elf Schritte großen Zelle verteilt waren. Keiner konnte jedoch schlafen, da die Pritschen sehr hart waren und es auch kalt war. Um halb sechs Uhr früh kamen erneut Häftlinge, bis die Zelle um acht Uhr schließlich ungefähr 40 Personen fasste. Eine Stunde später wurden 15 Häftlinge, darunter auch Kelfeit, gerufen. Sie erhielten Krawatten und Geldbörsen zurück und mussten in den vor der Tür wartenden Zellwagen einsteigen. Draußen warteten unzählige Angehörige der Inhaftierten, ebenso Kelfeits Familie. Als er sie sah, bekam er einen Herzkrampf und drehte sich weg, damit seine Frau nichts merke. Alle waren unwissend, wohin sie gebracht wurden, sie hofften, nur nicht in die Karajangasse, denn dort war die Sammelstelle für Juden, die nach Dachau kommen werden.
Die Karajangasse
Leider stiegen sie tatsächlich dort aus, wo sie anschließend ihre Geldtaschen wieder abgeben mussten, woraus Geld für die "Schadensgutmachung" ihrer Vorgänger, wie mitgenommene Seife, etc. genommen wurde. Als Kelfeit ankam, waren bereits 26 Personen dort, am folgenden Dienstag bereits 600, die dann aufgeteilt wurden. Er war im Raum mit 125 Personen auf 80 Strohsäcken, in den Parterresälen waren je 250 Mann, darunter 44 Ärzte und 32 Rechtsanwälte. Die Mahlzeiten bestanden zumeist aus schwarzem Brot, jedoch durfte per Post Kleidung und Geld an die Häftlinge geschickt werden, damit sie sich zu Wucherpreisen eine Essensaufbesserung kaufen konnten. Außerdem durften sie täglich eine halbe Stunde spazieren gehen.
Am Mittwoch, 22. Juni, waren sie "komplett". Jeder einzelne musste in ein Zimmer eintreten, wo er erneut befragt wurde. Hierbei wurde jeder als "Jude Familienname" bezeichnet. In jenem Raum saßen vier Beamte in Zivil vor Schreibmaschinen. Kelfeit wurde gesagt, dass er für ein Jahr nach Dachau käme, wenn er nicht ausreise. Kelfeit gab an, vier Monate zu brauchen, jedoch wurden ihm und seiner Familie lediglich zehn Wochen gewährt, das Deutsche Reichsgebiet zu verlassen, was er unterschreiben musste. Weiters habe er täglich Bericht bei der Polizei abzuliefern. Falls er bis 10. September noch immer im Land sei, komme er lebenslänglich nach Dachau. Schließlich musste er auch noch unterschreiben, nichts vom Grund der Verhaftung oder dem Erlebten in Schutzhaft im Ausland zu erzählen. Unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Karajangasse wurde Kelfeit von einer Frau an einer Ecke angesprochen, die sich nach dem Wohlergehen ihres Mannes erkundigte. Er ging jedoch weiter, da er in ihr einen Spitzel vermutete.
Flucht
Nachdem seine Frau das Geschäft gesperrt hatte, da sie bei den Kindern bleiben musste, weil Juden keine Hausgehilfen mehr halten durften, begann der Kampf um das Erlangen eines Reisepasses. Man musste sich jeweils um zwölf Uhr nachts vor Gebäuden anstellen, um von diversen Instanzen Bestätigungen zu besorgen. Dies war mit enormen Kosten verbunden, da man es letztendlich nur auf das Geld abgesehen hatte und man gleichzeitig die Juden verhöhnen und verspotten konnte. Immer wieder wurden "alte Schulden" gesucht. So musste auch Kelfeit unter Dachau-Androhung einen Betrag von RM 1560 bezahlen. Im 5. Bezirk in der Wehrgasse war inzwischen speziell für Juden eine eigene Passstelle errichtet worden. Dort musste folgendes Gesuch eingereicht werden:
"Der unterfertigte Jude N.N. ersucht hiemit um Ausstellung eines Reisepasses und verpflichtet sich, nach erfolgter Ausreise niemals mehr in das Deutsche Reichsgebiet zurückzukehren."
Auch hierzu musste man sich nächtelang um das Gebäude anstellen, anschließend wurde man hin und hergeschickt, wobei Arier natürlich Vorrang hatten. Während der Nacht spielten sich oftmals Schreckensszenen ab: junge Burschen schlugen die Angestellten mit Holzlatten, Eisenstangen und Knütteln auseinander und verprügelten sie brutal. Als Kelfeit keine Nummer bekam, hatte ein ihm bekannter Polizist Mitleid und verhalf ihm zu einer. Nach einigen Wochen hielt er dann endlich seinen Pass in Händen dank folgendem Dokument des Polizisten, welches sich noch immer in seinem Besitz befindet:
"Der Jude Chaskel Futterweit hat bis 9. September 1938 auftragsgemäß das Deutsche Reichsgebiet zu verlassen, weshalb gebeten wird, ihn sogleich vorzunehmen. Wien, am 28. Juli 1938."
Dieser Reisepass konnte aber eigentlich nicht als Dokument gewertet werden. Er beinhält folgenden Satz: "zur einmaligen Ausreise und Wiedereinreise in das Deutsche Reich gültig", was jedoch eine Lüge war, da man ja zuvor bestätigt hatte, nie wieder zurückzukehren.
Daraufhin begannen Kelfeits Bemühungen, ein Visum nach der Tschechoslowakei zu erlangen, wo sein Bruder lebte. Die Ansuche wurde aber abgewiesen, obwohl er keinen Betrag scheuen wollte. Inzwischen hatte er seine Wohnung an seinen Nachbarn, einen SA-Mann, verloren, der für die Ausreise festgesetzte Tag näherte sich, und noch immer war keine Aussicht auf ein Visum in irgendein Land. Sein Sohn wurde von der Hitlerjugend des öfteren verprügelt, bis Kelfeit nicht mehr konnte. Er wollte hinaus, so beschloss er es einigen seiner Freunden gleich zu tun und in die Schweiz zu fliehen. Er kaufte eine Eisenbahnkarte Feldkirch - Bregenz - Buchs - Basel. Er wählte diese Strecke entlang der Grenze, da er wahrscheinlich mehrerer Versuche für den Grenzübertritt benötigen werde. Während der Fahrt dachte er viel an früher und dachte über seine Flucht nach, die er als Grundstein für die Zukunft seiner Familie sah. Um 10 Uhr stiegen Grenzbeamten zwecks Pass- und Devisenkontrolle zu. Er wurde gefragt, wieviel er an Bargeld bei sich habe, bevor ihm von RM 240,- alles bis auf RM 10,- abgenommen und an seine Frau retour gesandt wurde. Dann musste sich Kelfeit einer Leibes- und Gepäcksrevision unterziehen, wozu er sich gänzlich entkleiden musste und sein Koffer eine halbe Stunde lang durchsucht wurde.
In Feldkirch erfuhr er, dass ab jenem morgen niemand mehr ohne Visum in die Schweiz käme. Er wurde daraufhin zu einem anderen Gleis zu einem zur Abfahrt bereitstehendem Zug mit der Aufschrift "nach Bregenz" geführt. Kelfeit fuhr jedoch zurück nach Feldkirch, da er nicht wusste, was er tun solle. Dort fand er einen Triebwagen nach Buchs. Während der Fahrt zog der Grenzbeamte plötzlich die Notbremse, da er kein Einreisevisum fand. Jener befahl Kelfeit auszusteigen und wies ihm die Richtung nach der Schweiz. In seinem Reisepass stand nun der Vermerk:
"Ausgereist Feldkirch, 7. VIII. 1938"
Auf seinem Weg traf Kelfeit einen 16 jährigen Vorarlberger Burschen, der ihn zu einem Wald Richtung Liechtenstein begleitete, als plötzlich ein Gewitter aufzog. Von nun an wollte der Junge ihn nicht weiter führen, da er die Grenzjäger und ihre Hunden fürchtete. Obwohl es in Strömen regnete und er nahe am Zusammenbruch war, lief er dennoch weiter. Unzählige Male glaubte er, jemanden zu hören, rannte aber immer weiter in den Wald hinein, bis er schließlich und endlich völlig durchnässt das Ende erreicht hat. 20 Meter vor dem Waldesrand war ein Haus, aus dem Kelfeit sofort ein Mann zu Hilfe gelaufen kam und ihm sagte, er befinde sich in Mauren und sei gerettet. Er erhielt Wasser, trockene Kleidung und sfr 6,- für seine restlichen RM 10,- . Kelfeit rief seinen Bruder in St. Moritz an, der ihn bat, zu kommen. So tauschte er seine Fahrkarte nach Basel in eine nach St. Moritz um. Als er von einem Grenzpolizisten angehalten wurde, war er sich sicher, nicht wieder zurück ins Deutsche Reich zu müssen. Jener sagte jedoch das Gegenteil, doch nach Vorzeigung der Bestätigung für die Nicht-Wiedereinreise ließ er sich überreden. Der Beamte regte sich jedoch fürchterlich auf, dass die Nazis den Juden zuerst das Geld abnehmen und sie nachher in die Schweiz schicken, da Kelfeit nach dem Telefonat nur mehr sfr 4,- besaß.
Kelfeit hatte somit die Freiheit erlangt. Er wusste zunächst nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er beschloss jedoch, den Schweizern auf ewig für seine vorübergehende Aufnahme und für deren Gastfreundschaft dankbar zu sein.
Freiheit
Während der Fahrt nach St. Gallen konnte er über den Bodensee und die Vorarlberger Gebirgskette hinüber ins Deutsche Reich sehen. In St. Gallen angekommen, wurde er zusammen mit sechs anderen in Haft genommen, wo sie sich gegenseitig ihre Flucht erzählten. Alle kamen zum Schluss, dass es hier im sogenannten Arrest viel schöner und gemütlicher sei als in der sogenannten Freiheit in Deutschland.
Nachdem Kelfeit ein zehn Seiten langes Protokoll abgeliefert hatte, wurde er der Israelitischen Flüchtlingshilfe überstellt und nach Schäflisegg, dessen Berggipfel 1000 Meter hoch war, im Appenzellerland gebracht, wo er eine bewundernswerte Gastfreundschaft genoss. Im selben Haus waren auch Kinder, die jedoch beschlossen, extra für die Flüchtlinge, die schweres während der letzten Tage erlebt haben mussten, ruhig zu sein. Als die Kinder dann abfuhren, veranstalteten sie ein Abschiedsfest, zu dem auch Kelfeit und seine Freunde eingeladen waren. Nach langer Zeit fühlten sie sich endlich wieder wie wahre Menschen, jedoch wurden sie nun auch an ihre Familien erinnert, die sie teilweise bereits vergessen hatten.
Am 19. August kamen weitere 50 männliche Emigranten zwischen 17 und 50 Jahren in jenes Haus. Im Grenzort Dieboldsau wurde eine Polizeilagerstätte für 200 jüdische Flüchtlinge errichtet. Kelfeit hingegen leitete mit drei Kollegen das Lager in Schäflisegg. Ärzte hatten tagtäglich große Arbeit, da der Zustand der Neuankömmlinge katastrophal war. Es ist erstaunlich, was die Flüchtlingshilfe in dieser Zeit zu leisten vermochte. Sie versorgte die Flüchtling mit Verpflegung, Taschengeld für Briefporto und Rauchmaterial, und stattete sie mit Kleidung aus.
Am 20. August wurde die Schweizer Grenze gänzlich für die illegale Einwanderung gesperrt. Für Kelfeit zählte ab sofort nur mehr, wie er seiner Familie helfen konnte. Hierbei half ihm ein gewisser Herr D., dem er bei seiner Ankunft in St. Gallen von seiner Frau und seinen Kindern berichtet hatte. Herr D. wies ihn an, seiner Frau telegraphisch mitzuteilen, sich nach Hohenems zu begeben. Den Rest solle er ihm überlassen. Tatsächlich sah er seine Familie zwei Tage später wieder, der es auf Umwegen und wegen Leibesvisitation mit Verspätung nun ebenso gelungen war, dass Deutsche Reich hinter sich zu lassen, und die so endlich in wieder erlangter Freiheit leben konnte.
Kelfeit durfte in seinem Lager davon jedoch nichts sagen, sondern musste vorgeben, aus unerklärlichen Gründen in den Fabriksort Gossau versetzt zu werden. Dort konnte sich seine Familie endlich erholen und seinen Kindern war es wieder möglich, die Schule zu besuchen, solange bis er erneut versetzt wurde ohne einen Grund zu wissen. Er sollte im Kurort Degersheim in eine Wohnung, zwei Zimmer plus Küche, in einem Privathaus übersiedeln. Von der Flüchtlingshilfe erhielt er sfr 53,- pro Woche. Da seine Familie die einzige Emigrantenfamilie in jenem Kurort war, wurden sie alle mit heftigen Fragen überschüttet. Sie enthielten sich jedoch jeder Äußerung, da sie Spitzel fürchteten und die noch in Deutschland lebenden Juden den Schaden tragen würden, weil man so das Volk wegen "Greuelpropaganda" im Ausland aufstacheln könnte. Deswegen würde kein Jude mit Rücksicht auf die noch in Deutschland lebenden Leidensgenossen die Wahrheit der Öffentlichkeit bekanntgeben, denn es wurden noch immer Gründe gesucht, um Juden zu erpressen, quälen, ...
Novemberpogrom
Als der deutsche Konsulbeamte von Rath anfangs November in Paris von einem verzweifelten jüdischen Emigranten erschossen wurde, bot das die Gelegenheit für den bereits lange vorbereiteten Judenpogrom, ein Pogrom wie ihn die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Am 9. November begann in ganz Deutschland die Judenverfolgung, die von oberster Stelle befohlen wurde, in Form von Treibjagden, wobei sogar Gotteshäuser geschändet und beraubt wurden. Am 11. November setzte ein erneuter Massenansturm von jüdischen Flüchtlingen in die Schweiz ein, zahlreicher als in allen Monaten zuvor. Viele der Emigranten wurden aufgenommen, jedoch in dermaßen schlechtem Zustand, sodass unzählige an Nervenzusammenbrüchen etc. litten. Viele litten an Verfolgungswahn und glaubten, noch lange später von der Gestapo beobachtet und verfolgt zu werden.
Im Nachhinein erfuhr man noch vieles von Opfern, was man schwer oder kaum glauben konnte. Erst als sich Ereignisse deckten und man Übereinstimmungen fand, musste man leider feststellen, dass es sich tatsächlich um die Wahrheit handle.
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