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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Das gefährliche gerücht von der hohen ausländerkriminalität



9.1 Ein Problem von Wissenschaft, Moral und Politik


Ein Gerücht geht um in Deutschland das statistische Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität. Seine trübe Quelle ist die polizeiliche Kriminalstatistik, deren Datenmassen ausländerfeindlich verschmutzt sind. Das Gerücht wird insbesondere von solchen Politikern, Medien und man muß sagen leider auch Sozialwissenschaftlern verbreitet, zu deren Wunschbild von einer ethnisch möglichst homogenen Gesellschaft es bestens paßt. Es leitet Wasser auf die Mühlen all derjenigen Monokulturalisten, die bemüht sind, die tatsächlichen oder so weitgehend in diesem Fall auch nur vermeintlichen Probleme und Gefahren zu dramatisieren, die der deutschen Gesellschaft von ihren \"Ausländern\" angeblich drohen.

Das statistische Gerücht ist nicht nur ein Problem von Wissenschaft und Statistik, sondern gleichzeitig auch ein Problem von Moral und Politik sowie eine Gefahr für den inneren Frieden. Mit seiner globalen Verunglimpfung von \"Ausländern\" verstößt es gegen den ethischen Kodex für ein menschliches Miteinander, für den fairen Umgang mit ethnischen Minderheiten in einer zivilisierten Gesellschaft. Politisch wird es instrumentalisiert für eine restriktive Ausländerpolitik. Und Gefahren für den inneren Frieden gehen von ihm aus, weil es den sozialpsychologischen Boden für eine ausländerfeindliche Stimmung mitbereitet, die in den letzten Jahren immer häufiger in Haß und Gewalt gegen Ausländer umgeschlagen ist. Das Gerücht ist eine der vielfältigen Ursachen dafür, daß der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahren die Kontrolle über das Gewaltpotential bei Teilen ihrer Bevölkerung entglitten ist.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen In diesem Beitrag soll nicht etwa bestritten werden, daß das organisierte Verbrechen grenzübergreifende, internationale Strukturen entwickelt hat, in denen mehr Ausländer als Deutsche aktiv sind, oder daß bestimmte Ausländergruppen bei. bestimmten Delikten z. B. im Rauschgifthandel dominieren. Es geht vielmehr darum, die inzwischen über sechs Millionen zählende Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung gegen das immer wieder geäußerte, diskriminierende Vorurteil in Schutz zu nehmen, ihr Zuzug nach Deutschland habe die Kriminalitätsrate in die Höhe getrieben und die Kriminalitätsprobleme der deutschen Gesellschaft verschärft.

9.2 Erscheinungsformen des Gerüchts in der Öffentlichkeit

Die folgenden Beispiele zu den Erscheinungsformen des Gerüchts sollen verdeutlichen, wie und durch wen das Gerücht über die Massenmedien in der Öffentlichkeit verbreitet wird.

Alle Jahre wieder wird die sogenannte \"Polizeiliche Kriminalstatistik\" (PKS) des Bundeskriminalamtes veröffentlicht, und alle Jahre wieder nehmen die regionalen und überregionalen Tageszeitungen dieses Ereignis zum Anlaß, über ausgewählte Daten der \"Kriminalitätsentwicklung\" zu berichten. In den Schlagzeilen der Presse ist dann von \"Verbrechen\", ;Straftaten\" und \"Kriminalität\" die Rede eine ausgesprochen irreführende Ausdrucksweise, deren sich auch die Polizeistatistiker und die Politiker bedienen . Ungenau und irreführend ist sie deshalb, weil die Kriminalämter in ihren Statistiken nicht die tatsächliche Kriminalität erfassen, sondern lediglich diejenigen Handlungen und Personen registrieren, die von Polizeibeamten einer Straftat verdächtigt werden. Der polizeiliche Verdacht auf eine strafbare Handlung wird jedoch nur in knapp einem Drittel der Fälle durch ein Gericht bestätigt. So verdächtigte die Polizei im Jahre 1990 1,38 Millionen Personen.

einer oder auch mehrerer Straftaten, aber nur 434000 Personen wurden in demselben Jahr auch rechtskräftig verurteilte. Bei Ausländern war die sogenannte \"Verurteilungsquote\" noch erheblich niedriger als bei Deutschen.

Meist wird in den jährlich wiederkehrenden Pressemeldungen über die PKS auch auf die (angeblich) so hohe Ausländerkriminalität hingewiesen. Die überregionale \"Welt am Sonntag\" machte z. B. aus dem Gerücht die dicke Schlagzeile \"Kriminalität steigt alarmierend 27 Prozent Ausländeranteil ; in der regionalen \"Siegener Zeitung\" tauchte das Gerücht als Unterschlagzeile unter Hinweis auf eine Aussage von Innenminister Kanther auf: \"Kanther: Ausländerdelikte geben Anlaß zur Sorge. \"

Andere Presseorgane verpacken das Gerücht etwas dezenter in die Texte ihrer Artikel. So meldete \"BILD\" seinen Millionen von LeserInnen: \"Der Innenminister: Große Sorge macht mir die Entwicklung der Ausländer Kriminalität.\' Fast ein Drittel aller ermittelten Tatverdächtigen habe nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Laut Polizeistatistik ist der Anteil ausländischer Tatverdächtiger besonders hoch bei Autodiebstählen (49 Prozent), Rauschgiftdelikten (51 Prozent), Menschenhandel ~(47 Prozent) und Taschendiebstahl (73 Prozent).\" Ganz ähnlich berichtete auch \"Die Welt\" desselben Tages.

Seit 1993 werden die nackten PKS Zahlen zur Ausländerkriminalität in einigen Zeitungen mit geringfügigen Relativierungen versehen, einige Politiker benutzen sie jedoch ohne jeden relativierenden Kommentar für ihre Ziele und finden dabei in der Presse ein Sprachrohr. So meldete die \"Frankfurter Allgemeine Zeitung\" (FAZ) unter der Schlagzeile \"Bötsch warnt vor Ausländerkriminalität folgendes: \"Bötsch führte die wachsende Zahl der Verbrechen auf den wachsenden Ausländeranteil in Deutschland zurück. 1991 habe er 8,5 Prozent betragen. Der Anteil der Ausländer an den Straftatverdächtigen lag dagegen bei 26,8 Prozent. Eine Lösung des Ausländerproblems, so Bötsch, erfordere die Änderung des Grundgesetzartikels 16 (,Politisch Verfolgte genießen Asylrecht\') und 19 (Rechtsweggarantie) . Das Gerücht wird nicht nur in den Berichten über die PKS verbreitet, sondern auch in längeren Artikeln in einigen Organen der \"seriösen\" Presse. Im Feuilleton der F.A.Z. schreibt Eike Lippert in einem ganzseitigen Beitrag zu Problemen der Wiedervereinigung: \"Die hohe Kriminalität unter Ausländern und Asylbewerbern ist bekannt. Dabei stehen die Rumänen mit Abstand an der Spitze. Genau das sind die Sinti und Roma, die illegal über Polens grüne Westgrenze strömen und zu Hunderten vor der hoffnungslos überfüllten zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Lichtenhagen kampierten. Und das in einem dichtbesiedelten Wohngebiet, in dem es gärte und kochte. Dort entfalteten sie ihren Anteil einer multikulturellen Gesellschaft: bettelten, lärmten, liebten sich, belästigten Frauen und Kinder. Die Grünflächen versanken in Unrat und Kot. Verbrechen grassierten: Betrug, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzungen, Vergewaltigungen grausamster Art In Lichtenhagen brodelte der Zorn wie in zahllosen Gemeinden ganz Deutschlands.\" In diesem Schreckensgemälde über die Situation in Rostock-Lichtenhagen wird der politisch ideologische Kontext plastisch sichtbar, in den das Gerücht häufig eingebettet ist: Es begründet eine generelle Abwehrhaltung gegenüber \"Ausländern\" und wird dazu benutzt, um brutale Gewaltakte von Deutschen gegenüber Ausländern zu erklären und gleichzeitig zu rechtfertigen. Rostock wurde bekanntlich über die Grenzen Deutschlands hinaus berüchtigt wegen der gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Ausländern unter den Augen von applaudierenden Anwohnern und untätig zuschauenden Polizisten.

Der ehemalige Landesjustizminister und Kriminologe Hans Dieter Schwind benutzt in einem ganzseitigen Beitrag zum Thema \"Sind wir ein Volk von Ausländerfeinden?\" ebenfalls die Daten der PKS: \"Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) für das gesamte Bundesgebiet zeigt, daß inzwischen mehr als 30 Prozent aller Raubtaten, Vergewaltigungen und gefährlichen oder schweren Körperverletzungen von Nichtdeutschen verübt werden. Am Taschendiebstahl sind Ausländer sogar mit mehr als 70 Prozent beteiligt. Auch bei Schwind, der es als Jurist eigentlich besser wissen müßte, verwandelt sich der Verdacht von Polizeibeamten gegenüber \"Nichtdeutschen\" unversehens in tatsächlich begangene \"Raubtaten, Vergewaltigungen\" etc. Die PKS Daten präsentiert Schwind ohne jegliche Relativierungen, und aus den hohen Anteilen der 14 , bis 21jährigen Ausländer unter den Tatverdächtigen schließt er auf eine \"eher mißlungene Integration\" der \"zweiten und dritten Generation der früher zugewanderten Ausländer\", obwohl sich diese Daten gar nicht auf diese Generation beziehen, sondern alle jungen Ausländer umfassen.

Das hier lediglich an einigen Beispielen skizzierte Bild einer tendenziösen, einseitig dramatisierenden Medienberichterstattung zur Ausländerkriminalität ist durch verschiedene weitere, zum Teil systematisch angelegte Inhaltsanalysen gut belegt\'0.

Das über die Medien verbreitete Gerücht über die hohe Ausländerkriminalität verfehlt seine Wirkung nicht: 57 Prozent der Westdeutschen betrachten die Ausländerkriminalität als eines der dringlichsten Probleme der inneren Sicherheit. Und auch 53 Prozent der Ostdeutschen sind dieser Meinung obwohl in den neuen Ländern bekanntlich kaum Ausländer leben\". Unter der Bevölkerung Ostdeutschlands ist zudem der Eindruck verbreitet, daß Deutsche erheblich gesetzestreuer sind als \"Gastarbeiter\", wie die ausländischen Arbeitnehmer in der ostdeutschen Umfrage genannt wurden. Bei Westdeutschen dürften ähnliche Vorurteile existieren.

im Mai 1992, als die Bundesregierung die Einführung der Zinsabschlagsteuer beschloß, mehrere großformatige Anzeigen der Deutschen Bank, Dresdner Bank und WestLB, die nachdrücklich zur privaten Geldanlage in ihren Luxemburger Filialen aufforderten. (\"Viele Mittel und Wege führen nach Luxemburg\" so der vieldeutige Werbeslogan der Dresdner Bank in ihrer Anzeige am 8. Mai 1992.)



9.3 Der statistische Kern: Ein Vergleich von Äpfeln und sauren Gurken

Der angeblich harte statistische Kern des Gerüchts sind ¬zwei Eckdaten aus der PKS und aus der Bevölkerungsstatistik, die einander gegenübergestellt werden, obwohl sie nicht vergleichbar sind: der Ausländeranteil unter den Tatverdächtigen (1992 gut 32 Prozent) und der Ausländeranteil an der Bevölkerung (1992 knapp 10 Prozent). Diese Gegenüberstellung suggeriert, daß die Kritninalitätsbelastung der Ausländer mehr als dreimal so hoch ist wie diejenige der Deutschen.

Prototypisch soll diese unzulässige Gegenüberstellung nochmals an zwei Beispielen illustriert werden. Schwind schreibt in dem bereits erwähnten Artikel: \"Rund 30 Prozent aller Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren sind heute Nichtdeutsche und das bei einem ausländischen Bevölkerungsanteil an dieser Altersgruppe von lediglich 10 Prozent. \" Und in einer Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins FOCUS zur \"Ausländerkriminalität\", die das Gerücht sogar zu einem deutschen Tabuthema\" hochstilisiert, werden in einem Balkendiagramm zur Jugendkriminalität\" die Ausländeranteile an den Tatverdächtigen und an der Wohnbevölkerung nach Altersgruppen gegliedert schön farbig gegeneinander abgesetzt und dabei den LeserInnen suggeriert, es gingen z. B. 41,6 Prozent der Delikte, die sich 21 bis 25jährige zuschulden kommen lassen, auf das Konto der wenigen Ausländer, die nur 10,3 Prozent dieser Altersgruppe ausmachen .

Unter unvoreingenommenen Fachleuten ist es inzwischen eine Binsenweisheit, daß bei dieser Gegenüberstellung Unvergleichbares miteinander verglichen wird verglichen. Ich werde im folgenden versuchen, das Unvergleichbare besser vergleichbar zu machen, oder um es etwas pointierter zu formulieren ich werde die trüben Daten der PKS soweit wie möglich reinigen\", damit sie einen klareren Blick auf die tatsächlichen Unterschiede in der Kriminalität von Deutschen und Ausländern erlauben. Die Daten werden dabei am Beispiel der Zahlen für die alten Bundesländer aus dem Jahr 1992 einem \"Reinigungsverfahren\" unterzogen, wobei die verschiedenen Stufen der Reinigung mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Problemen verknüpft sind.



9.4 Die Reinigung der PKS: nicht höhere, sondern
Niedrigere Kriminalität der ausländischen Wohnbevölkerung


Ausgangspunkt des Reinigungsverfahrens sind die bereits erwähnten Eckwerte des unzulässigen Vergleichs: Ausländer, die 1992 lediglich 10 Prozent der Bevölkerung (bzw. 9 Prozent der Wohnbevölkerung) ausmachen , sind unter den \"Straftätern\" der PKS des Jahres 1992 mit 32,2 Prozent vertreten .

Stufe 1: ausländerspezifische Delikte. Die erste Reinigungsstufe ist sehr einfach, die Korrektur wird z.T. nicht in allen Tabellen in der PKS selbst vorgenommen. Fast ein Viertel aller Tatverdächtigen Ausländer hat sich Verstöße gegen das Ausländer oder das Asylverfahrensgesetz zuschulden kommen lassen ausländerspezifische Delikte, die Deutsche in der Regel gar nicht begehen können. Bereinigt man die Statistik um diese Verstöße, dann reduziert sich der Ausländeranteil von 32,2 auf 26,8 Prozent\".

Stufe 2: \" Touristenkriminalität\". Auch das Reinigungsverfahren der zweiten Stufe ist einfach, denn die erforderlichen Angaben sind in der PKS vorhanden; allerdings werden sie nicht benutzt, um die PKS Daten zur Ausländerkriminalität selbst entsprechend zu bereinigen. In der Polizeistatistik sind Gruppen von Ausländern registriert, die in der Bevölkerungsstatistik nicht berücksichtigt werden. Die Basis der PKS ist also im Hinblick auf die Ausländer größer als die Basis der Bevölkerungsstatistik. Um beide Statistiken miteinander vergleichbar zu machen, müssen also die entsprechenden Gruppen aus den Zahlen der PKS herausgenommen werden. Beim Tatverdacht ohne ausländerspezifische Delikte gehören dazu insbesondere Ausländer ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik die PKS führt sie als \"Touristen/ Durchreisende\" sowie einige Angehörige der Stationierungsstreitkräfte und einige Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis * (Illegale). Klammert man diese Gruppen, die ca. 14 Prozent der Tatverdächtigen (ohne ausländerspezifische Delikte) ausmachen, aus, dann verringert sich der Ausländeranteil weiter auf 24 Prozent .

Stufe 3: Kriminalität der Asylbewerber (hauptsächlich Bagatellkriminalität). Es ist statistisch, einfach, aber kriminologisch und auch kriminalistisch, d. h. zum Zweck der Verbrechensbekämpfung unsinnig, alle Ausländer in einen Topf zu werfen und unter der Rubrik \"Nichtdeutsche\" zusammenzufassen. Kriminologisch bestehen zwischen den verschiedenen Gruppen von Ausländern gravierende Unterschiede. So leben z. B. die Asylsuchenden und die ausländische Wohnbevölkerung in völlig unterschiedlichen sozialen und psychischen Situationen und sind daher völlig unterschiedlichen Zwängen und Verlockungen zu kriminellen Handlungen sowie auch unterschiedlichen Gefahren der Verdächtigung, Stigmatisierung und Kriminalisierung ausgesetzt.

Ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien sind mehr oder weniger in die deutsche Gesellschaft teilintegriert. Sie verfügen in der Regel über Arbeit, Einkommen und eigene Wohnungen; sie leben in ihren Familien und in einem sozialen Beziehungsgeflecht von Freunden und Bekannten. Durch die Einbindung in das deutsche Netz der sozialen Sicherheit genießen sie ähnliche soziale Sicherheiten wie die deutsche Bevölkerung; ihr Leben läuft mit einer persönlichen und sozialen Perspektive ab\" .

 
 

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