Der Sieg der deutschen Truppen über Dänemark, Österreich und Frankreich sowie die
Gründung des Deutschen Reiches hatten das europäische Mächtegleichgewicht
durcheinander gebracht. Mißtrauisch blickten die anderen Großmächte auf den neuen
Staat und sein strakes militärisches Potential. Bismarck beeilte sich ihre
Bedenken zu zerstreuen. Das Reich sei satuiert, d.h. zufriedengestellt, und
strebe keine weitere territoriale Vergrößerung an.
In der Außenpolitik entwickelte er ein hochkompliziertes Bündnissystem, das außer
ihm - und nach ihm - niemand zu handhaben wußte. Es eignete sich zudem nur dazu,
einen Krieg hinauszuzögern, eine langfristig angelegte Sicherheitspolitik auf der
Basis eines stabilen Interessenausgleichs war es nicht. Das lag auch an der
veränderten Situation in Europa. Oberstes Ziel der Großmächte war nicht mehr der
europäische Friede, sondern die eigenen Machterweiterung. Dabei dachten sie nicht
mehr nur in europäischen Kategorien, es ging vielmehr um die Aufteilung der Weilt
in Einflußsphären.
England konzentrierte sich in den 1870er Jahren auf den Ausbau seines Empire und
war an der Erhaltung des Status quo auf dem Kontinent interessiert. Die russische
Regierung sah in Großbritannien das größte Hindernis bei der Ausdehnung im Orient
und in Asien, während sie auf dem Balkan mit österreichischen Intgeressen
zusammenstieß. Frankreich hatte nach der Niederlage von 1871 das vordringliche
Anliegen, den territorialen Verlust rückgängig zu machen und Vergeltung zu üben.
Vor dem langsam auseinander brechenden Osmanischen Reich ging die Gefahr aus, daß
es die Begehrlichkeiten der europäischen Großmächte zu weiteren Expansionen wie
auch die Nationalgefühle der auf dem Balkan und im Vorderen Orient lebenden
Völker wecken würde. Die Schwäche des sogenannten \"kranken Mann am Bosporus\" war
äußerst friedensbedrohend.
Für die deutsche Diplomatie ging es in erster Linie darum, ein Bündnis des
französischen Nachbarn mit Rußland - und damit einen Zweifrontenkrieg - zu
verhindern, aber auch eine englisch-französiche Annäherung zu vermeiden. Mit dem
Drei-Kaiser-Abkommen von 1873 zwischen dem Zaren und den Kaisern von Deutschland
und Österreich versuchte Bismarck, die Gefahr eines russisch-französischen
Bündnisses abzuwenden. Doch diese Konstellation wurde bereits wenige Jahre später
äußerst fraglich. Nachdem Bismarck den Konflikt zwischen den beiden Ostmächten
auf einem Kongreß 1878 als \"ehrlicher Makler\" ohne eigene Interessen geschlichtet
hatte, wurde er für die notwendigen Kompromisse und damit verbundenen
Enttäuschungen verantwortlich gemacht. Insbesondere Rußland hatte sich mehr
deutsche Unterstüzung für seine Balkanpläne erhofft und fand die deutsch Position
höchst undankbar nach allem, was das Zarenreich während der Reichsgründungsphase
für Deutschland geleistet hatte.
Um den verstimmten Zaren nicht den Franzosen in die Arme zu treiben, ging
Bismarck daran, die eigene Position zu stärken und damit für eine Allianz
attraktiv zu machen. Ergebnis war der Zweibund zwischen Deutschland und
Österreich-Ungarn von 1879. Tatsächlich bewog dieses Defensivbündnis die
russische Politik zu einer Wiederannäherung an das Deutsche Reich. Im
Drei-Kaiser-Bündnis von 1881 wurde zwischen den drei Ostmächten ein
Neutralitätsabkommen geschlossen, das 1884 noch einmal verlängert wurde. Obwohl
darin die jeweiligen Interessensphären auf dem Balkan abgesteckt wurden, blieb
Osteuropa ein Pulverfaß, das jederzeit explodieren konnte. Seit 1882 gab es
außerdem den Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien, ein äußerst
vage formuliertes Abkommen, auf das im Kriegsfall wenig Verlaß sein würde.
Zur Absicherung gegen aggressive Tendenzen der französischen Politik schloß
Bismarck mit dem Zarenreich 1887 ein geheimes Bündnis. Dieser
\"Rückversicherungsvertrag\" enthielt ein \"ganz geheimes\" Zusatzprotokoll, in dem
Deutschland den Russen Unterstützung bei ihren Ambitionen in Bulgarien und am
Schwarzen Meer zusagte - eine heikle Zusicherung, die wahrhaftig besser geheim
blieb, denn sie widersprach anderen internationalen Verträgen und stellte einen
Affront gegen die englische und österreichische Politik dar. Der Bündnisfall
durfte nicht eintreten, denn dabei würde das Doppelspiel ans Licht kommen. Um die
Zusagen des Rückversicherungsvertrages nicht einhalten zu müssen, vermittelte
Bismarck deswegen ein Abkommen zwischen England, Österreich-Ungarn und Italien
(Dreibund), in dem diese Mächte den gegenwärtigen Zustand auf dem Balkan
garantieren. Angesichtes dieser Übermacht mußte Rußland seine Absichten in
Bulgarien zähneknirschend aufgeben.
Zwar konnte auf diese komplizierte Weise eine Eskalation der Krise und eine
französisch-russische Allianz noch einmal verhindert werden, doch allmählich
begannen sich die raffiniert geknüpften Bündnisfäden zu einem engen Netz zu
verheddern, in dem das Reich immer weniger Handelsspielraum besaß und das Europa
zusehends in zwei große Lager spaltete. Bei der gleichzeitig einsetzenden
Aufrüstung und dem wachsenden Einfluß des Militärs auf politische Entscheidungen
nimmt es im Rückblick kaum Wunder, daß die Krisen irgendwann aus dem Ruder liefen
und der Großkrieg nicht mehr verhindert werden konnte. Immerhin konnte Bismarck
diesen Moment deutlich hinauszögern. Seine Nachfolger hatten andere Prioritäten.
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