Laut der Joint Declaration sollen die Gesetze in Hong Kong nach dem 1.7.1997 \"im wesentlichen unverändert bleiben\". Weil die meisten Aussagen aus Beijing zu diesem Thema ähnlich vage sind und Regierungssprechern noch immer eine nachträgliche Legitimation für Vertragsbrüche eingefallen ist, gehen wir in diesem Kapitel nicht näher auf offizielle Verlautbarungen ein.
Eine viel bessere Zukunftsprognose läßt sich von einer Untersuchung von Geschichte, Wirtschaft und Kultur und den aktuellen Handlungen der beteiligten Regierungen ableiten. Im ersten Abschnitt dieser Arbeit wurde eine Bestandsaufnahme der Fakten vorgenommen, aus denen in diesem Resümee Schlüsse gezogen werden sollen. Dabei werfen sich folgende Fragen auf:
1. Wie wirkt sich die Übergabe auf die Wirtschaft aus ?
2. Welche Folgen ergeben sich für Politik und Privatleben?
2.1. Wirtschaftliche Zukunft
Ich denke, daß in Hong Kong alles beim Alten bleiben wird. Dafür spricht die wirtschaftlich Vernetzung Chinas mit Hong Kong. China ist in den letzten Jahren zum größten Investor in der Kolonie geworden. Andererseits haben viele Ausländer in die Sonderwirtschaftszonen investiert. Große Anteile der Investition in China laufen über Hong Kong. Wenn China also nun die im Grundgesetz von 1990 gemachten Versprechungen nicht einhält, werden viele Investoren das Vertrauen in den Standort Hong Kong verlieren und sich zurückziehen. Mit dem Untergang des Wirtschaftsstandorts Hong Kong würden nun China investierte Milliarden US$ verlieren.
Der Punkt, daß China noch nie einen völkerrechtlichen Vertrag gebrochen hat ist sehr wichtig. China kann es sich nicht leisten dies zu tun, da so auch ausländische Investoren in den übrigen Wirtschaftssonderzonen ihr Kapital abziehen würden. Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert ist China nun nicht mehr wirtschaftlich unabhängig. Es ist auf ausländisches Know-how und Kapital angewiesen. Um diese Bedürfnisse befriedigen zu können, braucht China zwangsläufig Kontaktstellen zu den Investoren, Da sie nur aus kapitalistischen und demokratischen Staatssystemen kommen, also einen völlig anderen Lebensstil pflegen, ist es für China am günstigsten, den Status Hong Kongs aufrecht zu erhalten. Ähnlich wie im Kanton System kann man so in Kontakt zu den Investoren treten und gleichzeitig die eigene Bevölkerung vor fremden Einflüssen abschirmen. Die gleichen Beweggründe führten zur Bildung der Wirtschaftssonderzonen. Zur Stärkung der Wirtschaft war ausländisches Kapital nötig. Also entschloß man sich, in einigen Regionen ein kapitalistisches System zu erlauben, um nicht den Kommunismus auf höchster Ebene aufgeben zu müssen. Hier hat China bewiesen, daß es Vereinbarungen einhalten kann. So wurde das garantierte Recht auf Privatbesitz in den Wirtwschaftssonderzonen nie angetastet.
Die Möglichkeit, daß Hong Kong ohnehin schon dem Untergang geweiht sei und daß sich das Wirtschaftswachstum in die Sonderzonen verlagern werde, halte ich für unwahrscheinlich. Ich sehe wie Oskar Weggel Hong Kong als Standort, der auch in noch Zukunft von dem wirtschaftlichen Aufschwung Chinas profitieren wird. Die Wirtschaftssonderzonen haben keinen so hohen Bildungsstandard wie die Kolonie und die gesamte Infrastruktur ist nicht so weit ausgebaut. Hong Kong wird in Zukunft als Kontrollzentrale für ausländische Wirtschaftsunternehmen dienen. Von dort aus lassen sich die Unternehmungen in ganz China kontrollieren. Es ist ein günstiger Standort, da er die benötigte Infrastruktur bietet und außerdem dort ein freier Lebensstil garantiert ist. Man muß sich nicht erst mit vielen chinesischen Verhaltensregeln auseinandersetzen. Ein Anpassung ist nur bei Geschäftskontakten nötig nicht jedoch im Privatbereich. Dies ist auch ein weiteres Indiz dafür, daß sich die Wirtschaftsstruktur der Kolonie weiter hin zum dritten Sektor entwickelt. Als Produktionsstandort ist Hong Kong einfach zu kostspielig. Da jedoch hier die größte Sicherheit im chinesischen Wirtschaftsraum gegeben ist, wird die Industrie in anderen Standorten wie oben erwähnt kontrolliert werden.
Die langfristigen Investitionen Chinas in den neuen Flughafen Chek Lap Kok, die Erweiterung des Containerterminals sowie in den Bau des Tunnels zwischen Kowloon und Victoria zweigen auch, daß China auf die Stabilität Hong Kongs in Zukunft setzt und die Kolonie noch nicht abgeschrieben hat. Die Abwanderung verschiedener Wirtschaftsunternehmen sind kein Indiz für den Untergang Hong Kongs, sondern nur ein Zeichen absoluter Absicherung. Es war für die Kolonie ein großer Schock als das Traditionsunternehmen Hong Kongs, das Handelshaus \"Jardine & Matheson\", die offizielle Verlegung des Unternehmens nach Bermuda bekannt gab. Bis auf den offiziellen Firmensitz verbleibt jedoch der gesamte Firmenapparat in Hong Kong. Betrachtet man die Gruppe derer, die die Kolonie verlassen, genauer so stellt man fest, daß nur rund 3.000 der durchschnittlich 60.000 Personen pro Jahr als Unternehmer zu bezeichnen sind. Die Kolonie wird also scheinbar überwiegend von Personen verlassen zu werden, die schlechte Erfahrungen mit der chinesischen Regierung gemacht haben oder diese befürchten.
Auch für den Tourismus wird Hong Kong interessant bleiben. Anders als beim Hauptkonkurrenten Shanghai wurden weniger Fehler bei der Stadtplanung gemacht. Die Kronkolonie weist ein erheblich homogeneres, modernes Stadtbild auf, während in Shanhai wesentlich mehr Slums existieren. Auch sind mehr Parks vorhanden.
2.2. Politik und Privatleben
2.2.1. Staatsaufbau
Es ist aus wirtschaftlichen Gründen anzunehmen, daß der politische Aufbau Xiangangs dem Konzept der Joint Declaration auch in der Realität entsprechen wird. Für die Hong Kong - Chinesen bewirkt die Übergabe deshalb in diesem Bereich keine gravierenden Veränderungen, denn das System der Sonderverwaltungszone weist viele Parallelen zur Kolonialregierung auf. Wie bisher als Kronkolonie Hong Kong bleibt das Gebiet auch in Zukunft direkt einer Zentralregierung unterstellt, die wie heute Großbritannien den Regierungschef, das Pendant zum Gouverneur, einsetzt. Im Parlament wird es weiterhin nur eine einzige Kammer geben, weil das Territorium aufgrund seiner geringen Fläche und dichten Bebauung den Charakter eines Stadtstaates hat und eine Regionalvertretung der einzelnen Gebiete daher nicht sinnvoll ist. Der Umfang der Möglichkeiten zur politischen Partizipation unter der Herrschaft der Volksrepublik wird in der Joint Declaration nicht genauer erläutert. Es ist aber davon auszugehen, daß er wie unter britischer Regierung allenfalls symbolischer Natur sein wird. Denn Margaret Thatchers Plan Volksbegehren einzuführen, wurde wegen der sicheren Ablehnung durch die Regierung in Beijing schnell wieder verworfen. Außerdem steht bereits heute fest, daß alle Gesetzesbeschlüsse der Sonderverwaltungszone von der Zentralregierung bestätigt werden müssen. Also werden die Bewohner Hong Kongs auch nach Juli 1997 de facto politisch machtlos bleiben. Ohnehin herrscht ein sehr distanziertes Verhältnis zum Staat vor, man ist seit Jahrhunderten an Nichtbeteiligung gewohnt. Aus diesen Gründen und weil sich die finanzielle Situation der Mehrheit nicht verschlechtert, ist zu erwarten, daß sich die meisten Hong Kong - Chinesen auch mit den neuen Diktatoren arrangieren werden.
2.2.2. Situation von Ausländern und Flüchtlingen
Wesentlich schwerwiegender wird der Regierungswechsel für die 2% der Bevölkerung ohne chinesische Vorfahren sein. Unter britischer Herrschaft erhält jeder Bewohner nach sieben Jahren Aufenthalt in der Kolonie das Wahlrecht. Die Staatszugehörigkeit der Volksrepublik wird dagegen über die Abstammung definiert. Um die Anerkennung als Bürger zu erreichen, muß mindestens ein chinesisches Elternteil nachgewiesen werden können. Die in Hong Kong geborenen Inder, die weder durch die Republik Indien noch von Großbritannien anerkannt werden, sind darum ab dem Zeitpunkt der Übergabe staatenlos.
Für künftige Neueinwanderer wird die Situation durch den Abzug der Briten nicht einfacher. Auch nach der Vereinigung mit der Volksrepublik wird man die britischen Grenzanlagen nicht demontieren. Da Hong Kong stark übervölkert ist und es bereits ein Überangebot an Arbeitskräften gibt, werden mit Sicherheit nur noch Investorenvisa erteilt. Schon heute gibt es im Land mit den \"zwei Systemen\" innerchinesische Grenzen, und Flüchtlinge werden an den Sonderwirtschaftszonen abgewiesen. Zum einen soll auf diese Weise eine Übervölkerung dieser Gebiete verhindert werden, zum anderen will die Zentralregierung so den Einfluß des Westens auf einen Teil des Staates beschränken.
Wegen den geographischen Gegebenheiten der langen Küstenlinie und den guten Versteckmöglichkeiten auf den über 200 kleinen, oft unbewohnten Inseln Hong Kongs werden weiterhin zahlreiche illegale Flüchtlinge die Grenzen überschreiten ohne gefaßt zu werden. Obwohl eine Verbesserung der Grenzkontrollen technisch kaum noch möglich ist, könnte die Zahl der Einwanderer dennoch wegen der Übergabe an China zukünftig zurückgehen. Erstens ist ab diesem Zeitpunkt eine Flucht nach Hong Kong für politisch verfolgte Chinesen sinnlos, und zweitens wird der Lebensstandard für besitzlose Neuankömmlinge durch bereits angekündigte Kürzungen im Sozialbereich sinken. Denn in ihren Sonderwirtschaftszonen achtet die chinesische Regierung noch konsequenter auf die Durchsetzung der Gesetze des freien Marktes, als es die Briten bislang in Hong Kong tun. Durch sich abzeichnende gesellschaftliche Veränderungen, die unabhängig von der politischen Macht verlaufen, wird es für diese Personen auch immer weniger Unterstützung durch Selbsthilfegruppen geben. Dadurch ergibt sich Konfliktstoff für mögliche Unruhen. Diese wird die Regierung aber weniger gewaltsam unterdrücken als die Demonstration auf dem Tianmen-Platz. Das Massaker hatte einen Schaden für Chinas Image zufolge, der die Wirtschaft zeitweilig belastete und auch viele Geschäftsmänner Hong Kongs zur Abwanderung noch vor 1997 veranlaßte. Deshalb ist ein derartiges Vorgehen in Hong Kong, das in den nächsten Jahren im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit steht, nicht zu erwarten.
Zu den erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen zählen die typischen Folgen der Urbanisierung. So erlebt Hong Kong einen für die chinesische Kultur ungewöhnlichen Trend zum Individualismus. Die ländlichen Clanstrukturen beginnen sich aufzulösen, und das Statistische Büro der Kolonie konnte für 1996 sogar eine verstärkte Tendenz zum Single-Leben feststellen. Ist Hong Kong unter britischer Herrschaft lange chinesisch geblieben, so scheint das Land heute zu verwestlichen. Und dieser Prozeß wird sich wahrscheinlich auch unter Herrschaft der chinesischen Volksrepublik fortsetzen, denn durch die Abschottung der Sonderwirtschaftszonen zum übrigen China herrschen dort eigene Gesetzmäßigkeiten.
2.2.3. Zukunft des Landschaftsbildes
Die fortschreitende Verstädterung des Gebietes von Hong Kong wirkt sich natürlich weiterhin auf die Landschaft aus. Da es in der Sonderverwaltungszone aber schon seit langem ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem gibt, werden die kommenden Belastungen der Natur nicht so extrem wie in den anderen chinesischen Zentren Beijing und Shanghai sein. Weil die Tourismusbranche im postindustriellen Hong Kong an Bedeutung gewinnt, liegt die Bewahrung der restlichen Naturräume auch im Interesse der Wirtschaft. Die Umweltbelastungen in diesem auf Leichtindustrie und Dienstleistung ausgerichteten Land sind ohnehin verhältnismäßig gering.
2.3. Auswirkungen auf Gesamtchina
Die nahende Vereinigung des Landes mit der Volksrepublik könnte langfristig einen Prozeß zur erneuten kulturellen und später auch politischen Spaltung des Landes verstärken. Denn die in Hong Kong stark ausgeprägte Annäherung an Nordamerika und den europäischen Westen wird sich möglicherweise auf die übrigen Sonderwirtschaftszonen ausweiten. Dadurch würden die Gegensätze zwischen diesen Gebieten und dem von ihnen abgegrenzten restlichen China weiter zunehmen.
Das riesige Herrschaftsgebiet der Kaiser war nie eine kulturelle Einheit. China ist traditionell geteilt zwischen den Gebieten der \"Gelben\" und der \"Blauen\". Das Gelb bezieht sich hier auf die binnenländische Gruppe der auf Lößboden siedelnden Ackerbauern des Nordens und Westens, während das Blau auf das von Naßreisbauern bewohnte Küstengebiet anspielt. Unterschiedliche Naturvoraussetzungen und andere Nachbarvölker hatten die Herausbildung sehr gegensätzlicher Lebensweisen zufolge. Die Meeresanrainer profitierten durch die Austauschmöglichkeiten mit anderen seefahrenden und weiterentwickelten Völkern. Das Binnenland, insbesondere der Norden, war dagegen ausschließlich mit kriegerischen Nomaden in direktem Kontakt. Seine Bewohner haben seit jeher, je nach Betrachtungsweise, den Ruf von Traditionsverbundenheit beziehungsweise Rückständigkeit. Durch den Einfluß des Islam im Westen des Landes kommen noch religiöse Unterschiede hinzu.
Während der im Kampf mit den Nomaden geübte Norden China stets militärisch beherrschte, ist der Südosten wirtschaftlich dominierend. Ein langfristiger Plan der Regierung sieht für die VR China das Fortbestehen der wirtschaftlichen Teilung vor. Dabei soll der Westen zu einer Agrarzone werden, ein zentraler Gürtel von Provinzen in der Mitte des Staatsgebietes auf Schwerindustrie und die Küstenregion auf Verbrauchsgüter und Forschung ausgerichtet sein. Grundlage der führenden Wirtschaft des Küstengebietes sind die Sonderwirtschaftszonen, die als Teil der Öffnungspolitik Deng Xiao Pings gegründet wurden. Von eben diesen liberalisierten Gebieten und Offenen Küstenstädten könnte eine zukünftige politische Spaltung des Landes ausgehen. Zwar konnte sich der Einfluß des Auslandes durch ihre systematische Abriegelung nicht im ganzen Land ausbreiten, doch haben die Bewohner dieser Zonen durch den Umgang mit einem anderen Marktsystem und fremden Denkweisen eine eigene Sicht der Dinge entwickelt. Die für das Geschäftsleben angeeigneten Fremdsprachen bieten einigen von ihnen die Möglichkeit, sich aktiv und in den Quellen ihrer Wahl zu informieren. Über Fernsehsender aus Taiwan und Hong Kong, die an der Küste empfangen werden können, sind für die Mehrheit auch Informationen in der eigenen Sprache zugänglich, die nicht von der Regierung in Beijing kontrolliert werden. Gleichzeitig wird der Austausch mit den Chinesen außerhalb der Sonderzonen schwieriger, denn im Umfeld von Hong Kong hat sich eine andere Schriftsprache eingebürgert, nämlich die Langzeichen vor der Schriftreform der 70er Jahre.
In den nun führenden Sonderwirtschaftszonen gibt es erste Anzeichen des politischen Separatismus`. Provinzführer verfolgen in ihrer Wirtschaftspolitik verstärkt die Interessen ihrer Region und beginnen die Bedürfnisse des Gesamtstaates zu vernachlässigen. Ähnlich dem industrialisiertem Norditalien könnte es im chinesischen Südosten eine Bewegung zur Trennung von unterentwickelten und wirtschaftlich abhängigen Gebieten geben. Eine Legitimation wäre aufgrund der kulturellen Unterschiede leicht zu vermitteln. Wegen der ethnischen Verschiedenheiten von Ost und West gibt es auch kein gesamtchinesisches Wir-Gefühl auf Basis von Familienbindungen. Vielmehr fördert die traditionelle Distanz zum Staat und die konsequente Aussenabgrenzung der Clangruppen jede Bewegung zu staatlicher Spaltung.
Weil die kulturelle Eigenart Hong Kongs die bereits bestehenden Gegensätze in der Volksrepublik noch vorantreiben wird, könnte es im nächsten Jahrzehnt zu einer paradoxen Entwicklung kommen. So wird 1999 mit Macao die letzte Kolonie auf chinesischem Boden wieder eingegliedert sein, und doch besteht die Möglichkeit, daß gerade die Vereinigungen der nächsten Zukunft zu Chinas Teilung führen.
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