Erwägt man die Frage, welche Weltwunder unter den Sieben des Altertums die Phantasie der Menschen bis auf den heutigen Tag am meisten beschäftigt haben, wird man wohl immer auf zwei zurückkommen. Das älteste Weltwunder, die 4500 Jahre alten Großen Pyramiden Ägyptens und das jüngste und letzte, der Koloß von Rhodos, der ungefähr halb so alt ist.
Eine möglichst originalgetreue Nachbildung soll es sein, die freilich nicht mehr aus schwerem Erz, vielmehr aus Aluminium, dem leichten Metall unseres Jahrhunderts, gegossen würde. Eine Hollywood-Idee, das monumentale Werk von Filmarchitekten! Daß der neue Koloß dem Winddruck zu widerstehen vermöchte, wird versichert. Auch mache es für das Auge keinen Unterschied, ob Erz oder eloxiertes Aluminium. Man habe ja auch die Kuppel des ehrwürdigen Felsendoms zu Jerusalem damit gedeckt und den Seidenglanz der alten Vergoldung von einst mit modernen Mitteln recht gut getroffen.
Man weiß nicht, wo der Koloß von Rhodos wirklich stand. Auch kann trotz zahlreicher Schilderungen niemand sagen, wie er ausgesehen hat. Sicher aber ist es, daß er anders aussah, als er heute allgemein dargestellt wird. Der Koloß von Rhodos stand keineswegs in der herausfordernden und großartigen Pose breitbeinig über der Hafeneinfahrt von Rhodos, so, daß ein- und auslaufende Schiffe unter ihm durchfahren mußten. Schon vor 2200 Jahren ist der Koloß umgestürzt, die Bruchstücke lagen dann rund 900 Jahre lang zur freien Besichtigung da.
Wen stellte das Weltwunder überhaupt dar?
Zur Beantwortung dieser Frage muß man die griechische Sagenwelt bemühen. Danach verdankt Rhodos, die rund 20 km von der türkischen Küste entfernte Insel, ihr Dasein einem verspäteten Schöpfungsakt. Zeus hatte die Erde an die Götter verteilt, der Sonnengott Helios war dabei leer ausgegangen. Helios, der sein strahlendes Gespann jeden Tag über den Himmel lenkte, war unabkömmlich gewesen. So hatte man ihn vergessen. Er reklamierte und verlangte entschädigt zu werden. Aus großer Höhe, so erklärte er Zeus, habe er tief unter dem Wasser eine herrliche Insel vorgezeichnet gesehen. Wenn Zeus sie an die Meeresoberfläche heraufholen und ihm zuteilen wolle, würde er, Helios, sich damit zufriedengeben.
Zeus vollbrachte das und Helios übernahm die nachgeborene Insel als Eigentum. Der wachsende Wohlstand rief im Jahr 305 v. Chr. einen kleinasiatischen Diadochen auf den Plan, Demetrius Poliorketes, den gefürchteten Städteeroberer, der bereits Zypern geplündert hatte.
Ihrem Gott Helios gelobten sie, wenn er sie schütze, ein riesiges Standbild zu errichten.
Der Koloß hatte eine Höhe von 80 Ellen, das sind ca. 35 Meter Höhe. Die Freiheitsstatue vor dem New Yorker Hafen, die dem Koloß von Rhodos nachempfunden sein durfte, mit 46 Meter. Über die Haltung der Arme und Beine ist in den antiken Schilderungen nichts gesagt.
Es ist übrigens auch nicht von zwei Sockeln die Rede, nur von einem. Sind die effektvoll gespreizten Beine somit ein reines Phantasieprodukt aus dem 16. Jahrhundert n. Chr., der beginnenden Neuzeit?
Anzunehmen ist, daß der Weltwunder-Koloß als riesenhaftes Weihegeschenk auf einem erhöhten Punkt über der Stadt stand, um so schon von weitem, vom Meer her sichtbar zu sein. Nur 66 Jahre nach seiner Fertigstellung, 224 v. Chr. stürzte ein Erdbeben den Koloß um.
In 12 Jahren sei der Koloß fertiggestellt worden. Er habe 300 Talente gekostet. Das wären heute an die 15 Millionen Schilling.
Auch diese Schilderungen sprechen dafür, daß der Koloß an bevorzugter Stelle, auf einer Höhe über der Stadt, vielleicht auf dem höchsten Punkt, nicht aber über der Hafeneinfahrt gestanden hat. Ein knappes Jahrtausend ist der gefällte Riese an Ort und Stelle liegengeblieben. Dann erst, nach der Eroberung der Insel durch die Araber 653 m Chr. war sein endgültiges Ende gekommen. Die stehengebliebenen Reste wurden vorn Sockel gerissen, die Erzmasse in 900 Teile zerlegt, auf Kamele geladen und zum Einschmelzen nach Syrien verschickt.
Der Koloß hätte wohl ins Wasser stürzen müssen. Die Trümmer hätten die ein- und auslaufenden Schiffe gefährdet. Auch hätten die arabischen Schrotthändler dann kaum Kamele bemühen müssen, um das Erz zum Hafen zu bringen. Noch ein Indiz, daß der Koloß nicht über der Hafeneinfahrt gestanden hat.
Der Koloß von Rhodos war dreieinhalbmal so groß wie der Zeus von Olympia, dabei weniger auf das Majestätische als auf das Riesenhafte hin gestaltet. Die Vermutung liegt nahe, daß der Helioskopf auf den rhodischen Münzen, der kraftvoll, sogar etwas grob erscheint, den Kopf des Weltwunders wiedergibt.
Daß das Rätselhafte nirgendwo ganz gelöst werden konnte, trägt mit zur Faszination bei, die der lange verschwundene Koloß von Rhodos bis auf den heutigen Tag ausübt.
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