James gilt zurecht als derjenige Philosoph, der den amerikanischen Pragmatismus populär gemacht hat. Als junger Mann war er in Cambridge, Massachusetts, einer der Mitglieder jenes "Metaphysical Club", in dem Peirce die pragmatische Maxime das erste mal vortrug. James, ein origineller Denker, empirisch orientierter Psychologe und talentierter Redner, reformulierte Jahrzehnte später, als er bereits angesehener Professor der Universität Harvard war Peirce´ Denkprinzip so eingängig, dass es beim intellektuellen Publikum der USA größten Anklang fand.
In seinen Pragmatismus-Vorlesungen bläst er zum Generalangriff auf die alteuropäische, akademisch disziplinierte Philosophie: Ein pragmatisches Denken "wendet sich weg von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten a-priori Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg von dem Absoluten und den Ursprüngen".
Obwohl er mit Peirce in der pragmatischen Grundauffassung übereinstimmte, unterschied er sich von diesem doch durch den stärker ausgeprägten empiristischen Charakter seines Denkens. Seine Hinwendung zu einem radikalen Empirismus, der kein Apriori kennt, erklärt sich daraus, dass er sich in erster Linie an der Psychologie orientierte, während Peirce von der mathematischen Logik ausgegangen war. Was gibt dieser Differenz Tiefe?
Peirce´ Pragmatizismus postuliert, dass der menschheitsgeschichtliche Lernprozess einen "idealen Fluchtpunkt" hat. Im Blick auf die wissenschaftliche Methode dürfen wir hoffen, dass sich das kumulativ anreichernde Netzwerk sinnvoller Aussagen "in the long run" in geordneter Form bündelt, dass es sich logisch zur Erkenntnis des "großen Repräsentamen" Kosmos fügt. Es ist diese Peircesche Hoffnung auf Einheit, die James in seiner stärker pluralistisch dimensionierten Lesart des Pragmatismus zu problematisieren beginnt. Er meint, dass der endliche Status unseres Wissens sich zwar durch Spezifikationsprozesse komplexer gestalten wird, seinen Status als endlich jedoch dabei nicht (notwendig) verliert, dass die Realität perspektivisch bleibt, also "many faces" behält: "An analysis of the world may yield a number of formulae, all consistent with the facts." (z.B. verschiedene schlüssige und brauchbare Theorien des Lichts). James wendet sich gegen den (rigiden, mit Absolutheitsanspruch auftretenden) Objektivitätsfetisch einer pluralismusfeindlichen ("einheitswissenschaftlichen") Szientismus. Er betont: "Worauf ich mit Nachdruck bestehe, ist die Tatsache, dass der Pluralismus eine dem Monismus (die Anschauung, dass alle Dinge wesensmäßig zusammenhängen, bzw. dass der Begriff eines jeden Dinges die Begriffe aller anderen Dinge einschließt - die Wirklichkeit entspricht einer "Alleinheit") völlig gleichwertige Hypothese ist". Das Reale kann somit auch als Strukturenvielfalt vorgestellt werden, d.h. es fügt sich nicht unvermeidlich zur Gestalt des einen Alls.
Verifikation
Nach pragmatischer Auffassung ist Wahrheit eine Art des Guten (wahr ist hier als "förderlich" bestimmt): "Wahr heißt alles, was sich auf dem Gebiet der intellektuellen Überzeugung aus bestimmt angebbaren Gründen als gut erweist." Diese These führte zu heftigen Debatten; z.B. Bertrand Russel versuchte zu zeigen, dass James "die guten Wirkungen" von Wahrheitsansprüchen mit der "Wahrheit selbst" verwechselt. Heute wird die James´sche Wahrheitstheorie wiederentdeckt: Wahrheit ist nicht die Kopie einer "ready made world" (Putnam), wir sind es, die Wahrheitsansprüche erheben! Wahrheit als je vorliegende "Halbwahrheit" (die, selbst als die Bestmögliche, weiterhin auf Verbesserbarkeit hingespannt bleibt) ist das vielfach aufgefächerte Produkt unsres Handelns, das auf das Wahr-machen (oder Falsch-machen) unserer Thesen abzielt. "Unsere Vorstellung", so schreibt James, "wird wahr, wird durch Ereignisse wahr gemacht. Ihre Wahrheit ist tatsächlich ein Geschehen, ein Vorgang, und zwar der Vorgang ihrer Selbstbewahrheitung, ihrer Verifikation."; "Wahrheitsansprüche sind nirgendwo absolute Übereinstimmungen mit einer ebenso absoluten Wirklichkeit". Wahrheit ist nicht unitär, sie ist "a class name", das viele (potentiell unendlich viele) Verifikations-Praktiken umfasst. Angesichts der vielfältigen Arten des Verifizierens erweist sich die alte metaphysische Frage "Was ist Wahrheit?" als bloße Abstraktion aus den tatsächlich erlebten Wahrheiten in der Mehrzahl, als ein zusammenfassender Ausdruck wie "das Recht" oder "die lateinische Sprache". Konkrete Wahrheiten, die als "halbe Wahrheiten" immer hingespannt bleiben auf künftige Verbesserbarkeit, sind dann valide, wenn sie in ihren jeweiligen Kontext passen, wenn sie - wie James sagt - "nützlich" sind! Diese These haben James´ Kritiker als extrem anstößig empfunden, führte zur Verleumdung der "absurd praktikalistischen", unverschämt "kommerziellen", ja "kapitalistischen" Wahrheitskonzeption des Pragmatismus. Sogar von einem "cash value" der Wahrheit war die Rede. James hat noch selbst die Ansicht, die ihm unterstellt wurde, dass alles was irgendwie als nützlich betrachtet werden kann ("gute Wirkung habe") sogleich auch wahr sei, als absurdes Zerrbild seiner Theorie zurückgewiesen. James behauptet nicht auf unspezifisch-allgemeine Art die "Nützlichkeit" des Wahren, er analysiert vielmehr die breite Palette der Modi des Verifizierens. Diese sind sehr unterschiedliche Arten von Zeichengebrauch, in "Aussagen z.B., über wahrnehmbare Objekte, Aussagen über abstrakte Dinge wie die Elastizität der Uhrfedern, Aussagen der zeitgenössischen physikalischen Theorien, mathematische Aussagen, ethische Aussagen usw." Diese Pluralität impliziert, dass den Aussagetypen verschiedene Modi des "Vorwärtsbringens" entsprechen. Somit kann die Validitätsstruktur unserer Aussagen nicht uniform bestimmt werden.
Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen zur Wahrheit hält James nicht nur die Ethik, sondern auch die Religion für pragmatisch erkundbar - nicht nur wissenschaftliche Hypothesen haben als wahr zu gelten, wenn sie befriedigende Ergebnisse liefern, sondern auch religiöse Annahmen. Sein Nachdenken über die "praktischen Vernunft" beugt sich nirgendwo dem positivistischen Verdikt, dass nur Tatsachen rational thematisierbar sind, ethische und religiöse Werte aber der argumentlosen Dezision überantwortet werden müssen.
Das Recht zu glauben
"Bei allen wichtigen Verrichtungen im Leben ist es unumgänglich, dass wir einen Sprung ins Dunkel wagen".
Nirgendwo kommt die "Unzeitgemäßheit" des James-schen Denkens, die zugleich dessen postanalytische Attraktivität bedingt, deutlicher zum Ausdruck als in James´ vorsichtiger (Neu)Zuwendung zur Religion: ein Versuch der angesiedelt ist vor dem Hintergrund der voll entfalteten, neuzeitlichen Religionskritik. "Obzwar ich keine direktere und stärkere Gotteserfahrung kenne, gibt es doch etwas in mir, das sich rührt, wenn ich einschlägige Reden anderer höre." Unter pragmatischen Gesichtspunkten, wird die religiöse Hypothese glaubwürdig nur dann, wenn sie auf (individuelle) Bedürfnisse antwortet: die Götter müssen für uns verständlich sein. Die Bedürfnispluralität der Individuen rechtfertigt ein breites Spektrum von Religionen. Jede institutionelle Disziplinierung der Vielfalt des Religiösen ist James verdächtig. Kirchliche Institutionen verlieren durch die Behauptung die endgültige Wahrheit zu besitzen, genau das, was sie innezuhaben vorgeben. James ist bewusst, dass Gott weder wissenschaftlich noch "spekulativ" zu demonstrieren ist - er lehnt alle Gottesbeweise ab. Dies ist ihm jedoch kein Hindernisgrund, sondern die bestimmende Voraussetzung der Option Religion. Aber niemand kann aus gültigen Gründen das Recht streitig machen, die "Option Religion" handelnd zu riskieren. Wer die Hypothese ergreift - und zwar so, dass dieses Ergreifen im Handeln einen Unterschied macht - kann dazu beitragen, das, was die religiöse Option verspricht, falls es wahr werden kann auch wahr zu machen. Dies ist der Spezialsinn von Verifikation im Kontext des "Totalexperiments" Religion.
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