Gerhart Hauptmann schreibt 1889 das soziale Drama "Vor Sonnenaufgang" und löst damit bei der Uraufführung, die in einer geschlossenen Matinee der "Freien Bühne" stattfindet, einen Theaterskandal aus.
In einem schlesischen Dorf ist die Bauernfamilie Krause über Nacht zu Reichtum gekommen. Der Bauer Krause, jetzt Millionär, wird zum exzessiven Säufer, der gegenüber seiner Tochter zudringlich wird. Seine zweite Frau betrügt ihn und will die jüngere Tochter, Helene, mit ihrem eigenen Liebhaber verkuppeln. Die andere Tochter Krauses, Martha, ist ebenfalls Alkoholikerin und bringt ein totes Kind zur Welt. Ihr Mann, der Ingenieur Hoffmann, ist ein skrupelloser Geschäftemacher und stellt Helene nach.
In diese Familie kommt der Sozialreformer und Gesundheitsfanatiker Alfred Loth als intellektueller Außenseiter und kritisiert die sozialen Mißstände und die moralische Verdorbenheit der Familie Krause. Er verliebt sich in Helene, die als Einzige ihrer Umgebung nicht sittlich verkommen ist und sich gegen die Lasterhaftigkeit ihrer Familie wehrt, und will sie heiraten. Als er jedoch die gesamte Wahrheit über ihre Familie erfährt, verläßt er Helene aus Furcht vor möglichen Erbschäden seiner Nachkommen. Darauf nimmt sich die verlassene das Leben.
In seinem ersten Drama hat Gerhart Hauptmann naturalistische Themen aufgegriffen und ein "soziales Drama" geschrieben. Er analysiert die Situation der Landbevölkerung Schlesiens zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dort haben die Kohle und die Industrialisierung zu anormalen Zuständen geführt. Bauern, auf deren Grund man fündig geworden ist, sind durch den plötzlichen Reichtum demoralisiert worden, sind ihren primitivsten Trieben verfallen und haben sich dem Alkoholismus, der Völlerei und dem Inzest ergeben. Nach der positivistischen Determinationslehre werden auch die nachfolgenden Generationen unausweichlich das gleiche Schicksal erleiden, denn das Los des Menschen ist vorherbestimmt durch seine Erbmasse und das Milieu, in dem er aufwächst. Dieser Theorie zufolge ist auch Helenes Schicksal vorgezeichnet: Sie wird sich nicht auf die Dauer gegen den Alkoholismus wehren können und ihre zukünftigen Kinder erblich belasten.
Der Autor erklärt aus dieser Theorie die menschliche Handlungsweise Alfred Loths. Der selbstgerechte Idealist predigt Nächstenliebe und will die Menschheit beglücken, wendet sich aber skrupellos von dem vermeintlich bedingungslos geliebten Mädchen ab, weil es nicht in sein Gedankengebäude paßt. So muß der Utopist als feiger, pedantischer Prinzipienreiter erscheinen.
Mit diesen Einschränkungen deckt Hauptmann nicht nur sein Problem auf, sondern das des naturalistischen Dramas überhaupt. Wenn auf der Bühne nur die momentane Realität fotografisch genau wiedergegeben wird, muß die Charakterisierung der Personen trotz individueller Züge unvollständig bleiben, denn man sieht ja nur Augenblicke aus ihrem Leben. Es besteht die Gefahr, daß der Mensch zum bloßen Ideenträger wird. Im klassischen Drama dagegen kann der Held in langen Monologen - die freilich realitätsfern sind - seinen gesamten Charakter offenlegen. Oder Rückblenden verschiedener Art geben Gelegenheit, das Charakterbild zu vervollständigen.
Nicht nur die Thematik ist durch den Naturalismus bestimmt, sondern auch in der Darstellungsweise folgt Hauptmann dessen Forderungen.
Die Akademiker Loth und Schimmelpfennig sprechen Hochdeutsch, aber Tonfall, Pausen, unvollständige Sätze sind Mittel der Charakterisierung ihrer jeweiligen Gemütsbewegung. Die steife Sprache des Theoretikers Loth wird unsicher, stockend , wenn er seine Gefühle zu Helene auszudrücken versucht. Auch Helene redet Papierdeutsch. Nur die ungebildeten Personen sprechen Dialekt und gewinnen dadurch an Lebensechtheit. Ein Beispiel dafür ist das Gestammel des alten Krause.
Obwohl "Vor Sonnenaufgang" ein "soziales Drama" ist, treten die Bergarbeiter nicht leibhaftig auf. Ihr Elend wird von Helene eher beiläufig erwähnt, und als Studienobiekte des Sozialreformers Loth tauchen sie nur im Gespräch auf. Der Dichter hat nicht diese Problematik in den Mittelpunkt gestellt. Es geht ihm vor allem um die neuartige Technik des naturalistischen Dramas. Erst in "Die Weber" arbeitet er einen sozialen Stoff konsequent auf.
Das schockierende an diesem Werk ist einmal die ungewöhnliche Thematik: die zerstörerische Wirkung plötzlichen Reichtums auf eine Bauernfamilie, aber auch die naturalistische Darstellungsart: die abstoßenden und krassen Einzelheiten - und nicht zuletzt die Sprache mit den schwer verständlichen Dialektpassagen und der gestammelten Redeweise.
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