Die Geschichte von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti ist mittlerweile ein internationales Symbol der amerikanischen Ungerechtigkeit geworden, denn es handelt sich hierbei nicht nur um das Schicksal von zwei zu Unrecht auf dem elektrischen Stuhl endenden italienischen Immigranten, sondern vielmehr ist es die Geschichte eines jeden unerwünschten Einwanderers und Dissidenten in der Geschichte des freien Amerikas geworden.
1. Einleitung
Das Erstarken und Wachsen der Arbeiterbewegung der USA hatte ursächlich mit der Einwanderungsbewegung in die USA, der damit steigenden Zahl von Industriearbeitern und der fortschreitenden Monopolisierung des Kapitals zu tun. In den Jahren von 1860 bis 1900 wanderten mehr als 14 Millionen Menschen ein, was zum Wachsen der Bevölkerungszahl von 31 auf 76 Millionen beitrug. Gleichzeitig verdreifachte sich die Zahl der Industriearbeiter.
Dadurch waren zur weiteren Entwicklung des Kapitalismus günstige Voraussetzungen geschaffen worden. Der Konzentrationsprozeß der industriellen Produktion hatte seinen Höhepunkt in den Jahren 1890 bis 1902, der sich dann verlangsamte und erst wieder während des ersten Weltkrieges einen großen Aufschwung einnahm. Eine der Auswirkungen dieser Entwicklung war, daß zum Ende des 19. Jahrhunderts nur zehn Prozent der Bevölkerung über 90 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums besaßen.
Diese Entwicklung wurde gleichermaßen begleitet von einem Wachsen und Erstarken der Gewerkschaftsbewegung und der Gründung von anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Zirkeln oder Parteien. Es gab große Streikbewegungen für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Selbst bei Wahlen konnte die Sozialistische Partei der USA mehr als nur Achtungserfolge erringen (1904 über 500.000 Stimmen). Zeitungen und Propagandablätter der fortschrittlichen Mächte hatten inzwischen Massenauflagen erreicht. Es schien, als entwickelte sich die amerikanische Arbeiterbewegung zu einer Bedrohung für das kapitalistische System in den USA.
2. Zwei Italiener in einem Land, in dem Träume angeblich wahr werden
1908 kamen die beiden Italiener Nicola Sacco, im Alter von 17 Jahren, und der 20jährige Bartolomeo Vanzetti nach Amerika, um dort für sich und auch für ihre Familien dem Amerikanischen Traum nachzugehen, der Idee nach sozialer Gleichheit und materiellem Erfolg. Sie kamen in dieses scheinbar so freies Land, in ein Land in dem ihrer Meinung nach alle Menschen vor dem Gesetz gleich wären, doch wurden sie eines besseren
belehrt.
Bartolomeo Vanzetti wurde am 11. Juni 1888 in einem kleinen norditalienischen Dorf als Sohn einer Bauernfamilie geboren. Er begann im Alter von 13 Jahren eine Bäckerlehre, arbeitete dann auch 6 Jahre in diesem Beruf, bevor ihn eine Berufskrankheit zur Aufgabe zwang. Nach dem Tod seiner Mutter beschloß er in die USA auszuwandern, mit großen Hoffnungen auf das \"Land der unbegrenzten Möglichkeiten\".
Nicola Sacco wurde am 20. August in einem kleinen Dorf in Süditalien geboren. Er arbeitete und der Landwirtschaft und gehörte in seinem Heimatdorf einem sozialistischen Club an. Da für ihn und seinen Bruder die USA als Traumland galten, in dem man ein neues besseres Leben beginnen könne, beschlossen sie, dorthin auszuwandern.
Vanzetti verdiente sich zunächst, jedoch nicht sonderlich gut, als Bäcker, dann in Steinbrüchen und Eisengießereien. So schloß er sich in Massachusetts einer anarchistischen Gruppe an. 1916 traten dann die Arbeiter der Seilereigesellschft in Plymouth für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in den Streik. Vanzetti, der allein schon auf Grund seiner Herkunft für Aktionen wie diese äußerst prädestiniert war, trat in diesem Streik als Führer und Agitator auf. Nachdem eine Lohnerhöhung erkämpft war, wurden alle Streikenden wieder eingestellt - bis auf Bartolomeo Vanzetti.
Nicola Sacco hatte zu Beginn mehr Glück und fand eine vergleichsweise gute Anstellung in der Eisengießerei Hopedale, bevor er sich nach einigen Monaten entschloß, sich zum Facharbeiter an einer Schuhsteppmaschine ausbilden zu lassen, was er jedoch aus eigener Tasche bezahlen mußte. Sein Bruder hingegen kam mit den Verhältnissen in den USA nicht zurecht und kehrte in sein italienisches Heimatdorf zurück, wo er dann später sozialistischer Bürgermeister wurde. Nicola Sacco schloß sich ebenfalls einer anarchistischen Gruppe an.
Mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg wurde ein Wehrpflichtgesetz beschlossen, das nicht nur gebürtige Amerikaner zum Dienst an der Waffe zwang, sondern ebenso alle männlichen Einwanderer. Viele Revolutionäre entzogen sich dem Wehrdienst, indem sie nach Mexiko flohen. Dort lernten sich schließlich auch Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco kennen und wurden Freunde.
Doch die für Flüchtlinge schlechte Situation in Mexiko zwang viel von ihnen wider in die USA zurückzukehren. Sacco und Vanzetti führten fortan gemeinsame Weg zurück nach Massachusetts, wo Sacco schließlich in einer Schuhfabrik eine dauerhafte Anstellung fand und Vanzetti als Fischverkäufer arbeitete.
3. Die beiden Raubüberfälle
Am Morgen des 24. 12. 1919 gegen 7. 30 Uhr behoben der Zahlmeister der L.Q. Whiteshoe Company, ein Fahrer und ein Wächter die Lohngelder der Firma in einer Höhe von 30.000$ bei Bridgewater Trust Company, und hatten vor, diese auf einer Lore in die Schuhfabrik zu transportierten. Doch die Lore wurde von einem Wagen, in dem \"ausländisch aussehende Männer\" saßen, an einer Kreuzung am weiterfahren gehindert. Drei Männer entstiegen diesem Wagen - einer der dreien mit einer Flinte, die anderen beiden mit je einer Handfeuerwaffe bewaffnet - und gingen zu dem Lastwagen mit den Lohngeldern. Der mit der Flinte bewaffnete Mann, sowie einer der anderen \"Banditen\" feuerten daraufhin auf den Lastwagen, was der Wächter wiederum mit 2 Schüssen erwiderte und der Fahrer der Lore wich schließlich aus der Straßenfahrbahn aus und raste, um den Räubern zu entkommen, davon. Der Lastwagen geriet auf der feuchten Straße ins Schleudern und krachte schlußendlich in einem Telefonmast. Bei diesem ersten der beiden Raubüberfälle, an dem übrigens insgesamt vier Banditen beteiligt waren, wobei drei den Lastwagen angriffen, während der dritte als Fahrer fungierte, und somit die ganze Zeit über in dem Fahrzeug blieb, wurde niemand verletzt und auch die Lohngelder bleiben in Sicherheit.
Die Schuhfirma beauftragte nun die Detektei Pikerton mit den Nachforschungen betreffend des versuchten Raubüberfalls, und an Hand der Zeugenaussagen begab sich schlußendlich folgendes Bild für den Mann mit Flinte: ca. 40 Jahre alt, 5 Fuß 8 Zoll groß, ca. 150 Pfund, schwarzes Haar, dunkler Teint und Schnurrbart.
Der Polizeichef Michael E. Steward meinte, daß es sich hierbei um das Werk einer \"von außerhalb der Stadt gekommenen Russenbande\" gehandelt habe.
Bereits vier Monate später trug sich ein mit mehr Erfolg und tödlichen Folgen gekennzeichnete Raubüberfall zu.
Am Donnerstag, dem 15. April 1920, trafen die Lohngelder der Firma Slater und Morrill Shoe Company mit dem Morgenzug am Bahnhof des kleinen Städtchens South Braintree im US-Staat Massachusetts ein. Gegen 15 Uhr wurden die beiden Pakete mit Lohngeldern in Höhe von 15.776,59$ von zwei Angestellte der Firma, dem Zahlmeister Frederick A. Paramenter und dem Wächter Alessandro Berardelli abgeholt, um in die Fabrik geschafft zu werden. Gewöhnlich wurden die beiden von 3 anderen Männern begleitet, waren bewaffnet und legten den kurzen Weg in einem Auto zurück. Doch an diesem 15. April. 1920 waren Parmenter und Berardelli allein unterwegs, und wollten den Weg zur Fabrik unbewaffnet und zu Fuß zurücklegen. Doch auf der Straße wurden sie von mehreren Täter überfallen. Berardelli war auf der Stelle tot, während Parmenter noch 14 Stunden weiterlebte. Während des Überfalls kam ein kleiner Wagen der Marke Buick mit mehreren Insassen vorbei, die Täter warfen die Geldpakete in das Auto und sprangen selbst in den Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit den Tatort verläßt.
4. Die beiden mutmaßlichen Verbrecher
Da sich in der Region ähnliche Verbrechen in Zeit gehäuft hatten, stand die Polizei unter Erfolgszwang und recherchierte zudem ziemlich ungenau. Über ein typgleiches Auto kamen die Verfolgungsbehörden auf den Fischhändler Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco, Arbeiter in einer Schuhfabrik. Die beiden Italiener, die vor dem Ersten Weltkrieg in die USA emigriert waren, engagierten sich seit 1913 (Sacco) bzw. 1916 (Vanzetti) in der anarchistischen exilitalienischen Gewerkschaftsbewegung. Zudem fanden die Polizisten, als sie Sacco und Vanzetti in einem alten Gebrauchtwagen verhafteten viele anarchistische Flugblätter und Streikparolen. Das genügte der Polizei.
Sacco hatte allerdings für den Überfall, der sich an Heilig Abend zugetragen hatte, ein stichhaltiges Alibi.
Bartolomeo Vanzetti wurde außerdem noch vorgeworfen, in der Nähe von Bridgewater mit drei Komplizen eine Bank mit 35.000$ ausgeraubt zu haben. Entgegen allen juristischen Gepflogenheiten wurde Vanzetti für den vermeintlichen Banküberfall zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl ihm die Tat nicht nachgewiesen werden konnte.
Außerdem wurde der am 14. September beginnende Raubmordprozeß gegen Sacco und Vanzetti vorbereitet. So konnte man den Geschworenen zu Prozeßbeginn einen schon verurteilten Verbrecher vorstellen.
5. Das Gerichtsverfahren
Der Prozeß fand zwischen dem 31. Mai und dem 14. Juli 1921 in Dedham statt. Die Anklage gründete sich im wesentlichen auf zwei Fakten: Sacco besaß eine Pistole des Typs, wie er bei den Morden benutzt worden war, und die beiden Angeklagten wollten bei ihrer Festnahme in einer Autowerkstatt gerade ein Auto abholen, das im Zusammenhang mit den Verbrechen von South Braintree gesehen worden war. Viele sahen das als unzureichendes Beweismaterial an, dennoch spielten die beiden Indizien in dem Prozeß eine große Rolle. Außerdem waren die Zeugenaussagen widersprüchlich, und schließlich wurde Richter Webster Thayer und den Geschworenen Voreingenommenheit vorgeworfen.
Kreuzverhör von Katzmann mit Sacco:
Katzmann: \"Haben Sie Amerika im Ami 1917 den Rücken gekehrt?\"
\"Ich kann das nicht mit einem Wort beantworten!\"
\"Bitte beantworten Sie meine Frage, Mr. Sacco! - Haben Sie eine Woche, bevor die Einberufung zu den Truppen begann, im Ami 1917 also, unserem Land den Rücken gekehrt?\"
Thayer: \"Sie sagten doch gestern, daß Sie nur ein freies Land lieben könnten!\"
\"Ja!\"
\"Haben Sie dieses unser Land im Ami 1917 geliebt?\"
\"Ich sagte nicht ... Ich wollte nicht sagen ... Ich meine ... Ich meine nicht, daß ich dieses Land nicht geliebt habe:\"
\"Haben Sie dieses Land in jenem Monat des Jahres 1917 geliebt?\"
\" Mr. Katzmann, wenn Sie... Wenn Sie mir doch erlaubten... Ich könnte es Ihnen erklären.\"
\"Haben Sie denn meine Frage nicht verstanden?\"
\"Doch.\"
\"Wollen Sie mir also gefälligst antworten?\"
\"Ich kann nicht mit einem Wort antworten.\"
\"Sie können nicht sagen, ob sie die Vereinigten Staaten von Amerika eine Woche vor der Eintragung in die ersten Listen der einzuziehenden Bürger geliebt haben?\"
\"Ich kann es nicht mit einem Wort sagen, Mr. Katzmann.\"
\"Habe Sie dieses Land in den letzten Maiwochen des Jahres 1917 geliebt?\"
\"Es fällt mir sehr schwer, Mr. Katzmann das mit einem Wort zu sagen.\"
\"Aber zwei Worte stehen Ihnen doch zur Verfügung. Mr. Sacco, das Wort ja und das Wort nein. Und welches wählen Sie?\"
\"Ja!\"
\"Und um Ihre Liebe zu den Vereinigten Staaten zu beweisen, rannte Sie, als man Ihre Dienste benötigte, nach Mexiko davon?\"
Am 36. Tag des Prozesses, dem 14. Juli, beginnen die Plädoyers. Am Nachmittag zogen sich dann die Geschworenen zur Beratung zurück.
6. Das Urteil
Abends um 7. 30 Uhr wurden sich die Geschworenen einige: sie hielten die beiden Angeklagten für schuldig. Sacco rief aus: \"Siamo innocenti! Sie töten einen Unschuldigen! Sie töten zwei unschuldige Männer!\"
Der Richter verkündete - wie es in Massachusetts üblich ist - eine Vertagung, ohne das Urteil ausgesprochen zu haben, um den Untersuchungshäftlingen die Möglichkeit zu geben, Berufung einzulegen. Die Vertagung erfolgte bis zum 1, November, also um dreieinhalb Monate.
Zu dieser Zeit existierten in den USA bereits eine Unmenge von Verteidigungs - Komitees, die sich alle die Verteidigung von Sacco und Vanzetti zur Aufgabe gemacht hatten.
Aber der Protest gegen die einseitige und durchaus politisch gefärbte Führung des Prozesses beschränkte sich keineswegs auf die Vereinigten Staaten. So entstanden auch diverse Verteidigungs - Komitees in Europa; überall wurden Unterschriften gesammelt, die mit Petitionen für den Freispruch der beiden nach Boston gesandt wurden. Männer wir Bernhard Shaw, Thomas Mann, Albert Einstein, Mussolini, zuletzt sogar der Papst, setzten sich für die Verurteilten ein
7. William G. Thompson - Der letzte Rettungsversuch
Der New Yorker Anwalt William G. Thompson, der bisher nur in zivilrechtlichen Prozessen tätig war erklärte: \"Ich nehme mich dieses Falles als guter Amerikaner an, um zeri armen, ungerecht behandelten Ausländern zu helfen. Ich kenne Richter Thayer ein Leben lang. Ich halte ihn für beschränkt, dumm, voller Vorurteile, brutal, aufgeblasen und egoistisch. Er zittert vor den Roten, und er hält neunzig Prozent aller Amerikaner für rot. Einen solchen Mann lehne ich als Richter unter allen Umständen ab!\". Thompson kannte die Angeklagten nicht persönlich, er stand ihnen politisch nicht nahe er war nur Rechtsfanatiker. Er kämpfte weniger für die Sache Sacco Vanzetti als für die Idee der Gerechtigkeit.
Der erste Appell der Verteidigung erfolgt direkt nach Verkündigung des Beschlusses der Geschworenen. Dieser Einspruch wird am 24. Dezember. 1921 - fünf Monate nach Beendigung des eigentlichen Prozesses - von Richter Thayer zurückgewiesen. Als nächster Schritt wurde das Oberste Gericht von Massachusetts angerufen, das allerdings keinen Grund sah sich einzuschalten.
Es traten laufend neue Zeugen auf, einer behauptete er kenne einen Mann namens Pelser, der genauso aussähe wie Sacco, und der es auch gewesen sein könnte, ein anderer meinte er besäße einen Revolver aus dem die Kugel gestammt haben könnte. Schlußendlich meldete sich dann auch noch ein in bereits einer anderen Sache zum Tode verurteilter portugiesischer Berufsverbrecher, Celestino Medeiros, zu Worte, der den South Braintree-Mord eingestand, wurde dann aber von der Staatsanwaltschaft überredet, dieses Geständnis zu widerrufen, was er auch tat, da man ihm in diesem Fall Milde versprochen hat. Doch die Milde wurde dann freilich nicht ausgeübt, alle drei mußten schlußendlich sterben. Er, Madeiros, für Verbrechen deren er schuldig war, der Fischhändler und der Schuhmacher für Verbrechen deren sie unschuldig waren...
Inzwischen wurde auch längst Gouverneur Fuller des Staates Massachusetts eingeschaltet. Dieser ernannte ein Komitee, das den Fall noch einmal examinieren und Bericht erstatten sollte. Das Komitee kommt schließlich auf den Schluß der Prozeß sei fair geführt worden und das Urteil sei in Ordnung.
Alles in allem zogen sich die Versuche, das Urteil anzufechten und ein neues zu erwirken, über 6 Jahre lang. Mittlerweile waren seit dem Mord in South Braintreemehr als 7 Jahre vergangen, und die New York Times veröffentlichte einen bald berühmt gewordenen Artikel von Louis Starkes in dem es hieß: \"Die Tragödie des Sacco- und Vanzetti-Falles ist die Tragödie dreier Männer - Richter Thayer, Gouverneur Fuller und Präsident Lowell - und ihrer Unfähigkeit, über dem haßerfüllten, unanständigen Kampf zu stehen, der sieben Jahre lang um die Köpfe des Schuhmachers und Fischhändlers tobte.\"
8. Das Finale
Als die Geschworenen auf "schuldig" erkannten, gab es weltweit einen Aufschrei seitens der Sozialisten, Radikalen und vieler prominenter Intellektueller; sie waren der Überzeugung, daß die beiden Männer nur deshalb verurteilt wurden, weil sie Immigranten und erklärte Anarchisten waren.
Nachdem alle Versuche den Lauf der Dinge zu stoppen gescheitert sind und Richter Thayer das Datum der Hinrichtung bekannt geben sollte, ergriff Sacco noch einmal das Wort: \"In der Geschichte habe ich niemals etwas gelesen, was sich an Grausamkeit vergleichen läßt mit diesem Gerichtshof. Nach sieben Jahren der Verfolgung halten sie uns noch immer für schuldig. Und all diese netten Leute die hier zusammengekommen sind, festigen in mir die Überzeugung, daß es sich hier um ein Urteil zwischen zwei Klassen handelt - den Unterdrückten und den Reichen, und es wird immer zwischen diesen und jenen Zusammenstöße geben. Sie verfolgen unserer Leute, sie tyrannisieren sie und sie töten sie. Wir versuchen sie zu etwas Besserem zu erziehen...\"
9. Das Nachspiel
Nach der Hinrichtung Saccos und Vanzettis in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 kam es weltweit zu Massenprotesten, die in zahlreichen Städten zu schweren Straßenschlachten eskalierten und mehrere Todesopfer forderten. Dabei erregten in Europa die Ausschreitungen in Genf ob ihrer symbolischen Aufladung die größte Aufmerksamkeit. Die schwersten Zusammenstöße ereigneten sich in Paris, forderten 400 Verwundete und führten zu 200 Verhaftungen. Nachdem eine etwa 5000köpfige Menge von der Pariser Polizei daran gehindert worden war, vor der amerikanischen Botschaft zu demonstrieren, gingen mehrere Gruppen auf dem Montmartre gegen Kaffeehäuser und das Theater \"Moulin Rouge\" vor, in dem etwa 500 Amerikaner eine Vorstellung besuchten. Etwa 100 Schüsse fielen. Die Polizei ging wahllos auch gegen harmlose Spaziergänger und Passanten vor, mehrere Pressevertreter wurden trotz Vorzeigens ihrer Ausweise von den Einsatzkräften mißhandelt. Die Vorfälle führten unter der großen amerikanischen Gemeinde in Paris zu einer Panikstimmung, viele verließen überstürzt die französische Hauptstadt.
Die Weltöffentlichkeit konnte Sacco und Vanzetti nicht retten, aber die allgemeine Empörung über diesen fall trägt doch noch Früchte. Gouverneur Fuller wurde nicht wieder gewählt. Katzmann bekam kaum noch einen Prozeß in die Hände. Auch Richter Thayer wurde ein Opfer des Prozesses. Die Sieger des Prozesses wurden also ziemlich bald vergessen.
Sacco und Vanzetti hingegen nicht. 50 Jahre später, am 19. Juli 1977, wurden Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti rehabilitiert. Der Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, erklärte aufgrund einer Untersuchung, daß die beiden Opfer eines \"Fehlurteils\" geworden seien. Richter und Staatsanwälte waren, so die neue Untersuchung, \"voreingenommen gegen Ausländer und Dissidenten, im Prozeß herrschte eine Atmosphäre politischer Hysterie\". Der Staat Massachusetts erklärte den 23. August 1977 zum \"Sacco und Vanzetti\" Gedenktag.
Man muß alles tun, damit die tragische Geschichte von Sacco und Vanzetti im Gewissen der Menschheit lebendig bleibt. Sacco und Vanzetti erinnern uns an die Tatsache, daß selbst die perfektesten demokratischen Einrichtungen nicht besser sind als die Menschen, die sie als Instrumente benutzen.
Während des Prozesses gegen Sacco und Vanzetti war die Sehnsucht nach Gerechtigkeit noch größer als sie es heute ist - obgleich sie nicht gesiegt hat. Zu viele Schrecken haben seither das menschliche Gewissen getrübt. Der Kampf um die Würde der Menschen ist heute besonders dringlich. Mögen Sacco und Vanzetti als Symbole in allen jenen Menschen fortleben, die sich für eine höherer Moral im öffentlichen Leben einsetzen.
Albert Einstein
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