Unverkennbar ist ebenfalls die Nähe von Ernst Jünger - in den Augen von Brod war dieser ein vergröberter Nietzsche - zum Dichterphilosophen, insbesondere in seinen frühen Büchern: \"In Stahlgewitter\", \"Feuer und Blut\", \"Der Kampf als inneres Erlebnis\",\"Das Abenteuerliche Herz\" und \"Der Arbeiter\". Auch bei Jünger setzte die Nietzsche-Rezeption früh ein. Den Künstler und Artisten Nietzsche hat er indessen nie wahrgenommen, er war eher dem Geschichtsphilosophen zugetan. Aber zuletzt hat er im Vergleich zu Thomas Mann und Gottfried Benn am entschiedensten gegen Nietzsche opponiert, vor allem nachdem er seine Konversion zur Katholischen Kirche vollzogen hatte. Das war die Vollendung einer unablässigen Suche nach dem \"Jenseits\" der Erscheinungen. Er hat \"diesseits des Übermenschen\" kapituliert. Er scheiterte am amor fati.
Für viele Schriftsteller und Künstler war Nietzsche der Leidende und Triumphierende oder wie Benn(1886-1956), dessen spätere Prosa ohne Nietzsche nicht denkbar ist, es nach dem Ende des Nazi-Regimes ausdrückte: Er war \"das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie.\" Benn wurde vor allem durch Nietzsches Erkenntnis beeindruckt, dass die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei. Auch Benn war bemüht, die Kunst der moralischen Sphäre zu entziehen. Für beide, für Nietzsche und Benn, war die Ästhetik verbunden mit den metaphysischen Fragen nach dem Leben.
1950 hielt Gottfried Benn seinen Vortrag \"Nietzsche-nach fünfzig Jahren\". Hierin resümierte er:\"Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen, breittrat - alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitiv Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese...Er war, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche.\" Benn hat sich freilich nie von Nietzsche distanziert, wie es zeitweise Thomas Mann getan hat. Beide waren sicherlich Nietzsches extensivste Rezipienten.
Heinrich Mann hatte Nietzsches kulturkritische Bedeutung sogar schon 1896 und zwar früher als sein Bruder Thomas erkannt. In jungen Jahren soll Heinrich Mann ein Rauschästhet und Nietzsche-Jünger gewesen sein. Jedenfalls sah er wie sein Bruder Thomas, unter dem Einfluss Nietzsches, die erzieherische Aufgabe der Kunst darin, den deutschen Geist an das europäische Niveau anzuschließen.
Thomas Mann(1875-1955) hat sich zunächst mit Nietzsches Hilfe kulturell profiliert und ihn sich dienstbar gemacht wie es viele andere auch getan haben. Die komplizierte Rezeptionsgeschichte Nietzsches findet in den Romanen und Essays Thomas Manns ihren Höhepunkt, aber nicht ihren Endpunkt. Dabei war Thomas Mann selbst kein sehr guter Kenner von Nietzsches Werk, sondern verdankte seine Kenntnis vorwiegend dem Freund Ernst Bertram, den er mit der ihm eigenen Unbekümmertheit auszubeuten verstand. Trotzdem hat Thomas Mann vieles von Nietzsche in sein Werk mit aufgenommen. Schon in seinen \"Buddenbrooks\", den er zu Lebzeiten Nietzsches schrieb, fand am Rande eine Auseinandersetzung mit Nietzsche statt. Das Nietzsche-Thema des Geistes entfaltete er in seinen Novellen und Romanen, von Tonio Kröger bis hin zu den Josephsgeschichten. Wichtig war Mann Nietzsches These, dass \"die (physisch) Schwachen mehr Geist haben ..Man muss Gott nötig haben, um Geist zu bekommen.\" Eines der Hauptthemen von Thomas Mann war das antagonistische Verhältnis von Leben und Kunst, die Zusammengehörigkeit von Leben mit Gesundheit und von Kunst mit Krankheit und Verfall, wie etwa in Tonio Kröger(1903): Der Künstler, Sohn eines hanseatischen Vaters und einer leichtfertigen Mutter aus dem Süden, liebt sehnsüchtig die Gesunden, die \"Blonden und Blauäugigen\":Hans Hansen und Inge Holm, die ihm fremd bleiben und die doch seinem Künstlertum in dessen Lebensferne erst Rang und Größe geben. Nietzsches Abwehr des Herdentieres, hat Mann 1916, aus Anlass einer Lesung aus \"Felix Krull\" als die Sphäre eines Unpolitischen gegen die Plattheit der Politik verteidigt. Als das am meisten \"nietzscheanische\" Werk des frühen Thomas Mann gilt sein einziges Drama \"Fiorenza\" von 1904. Es ist das Drama vom Kampf um Florenz zwischen dem lebenshungrigen Lorenzo il Magnifico, der ein Krüppel ist, der schönen Fiore, seiner Geliebten, der Verkörperung der Lebensfülle, und dem Prior Girollama Savonarola, der die heidnische Welt der Schönheit haßt.
In \"Doktor Faustus\" erhob Mann Nietzsche in der Gestalt des \"deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn\" sogar zum Symbol des deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert, indem er ihn einen Pakt mit dem Teufel schließen ließ. Hier kommen verdächtig viele Nietzsche-Zitate aus des Teufels Mund. Thomas Man nannte seinen Dr.Faustus einen Nietzsche-Roman. Für den Literaturredakteur von der Neuen Zürcher Zeitung, Martin Meyer, ist er die einzige geglückte Nietzsche-Literarisierung.
In seinen \"Betrachtungen eines Unpolitischen\" schrieb Thomas Mann:\"Nietzsche hat, unbeschadet der tiefen Deutschheit seines Geistes durch seinen Europäismus zur kritischen Erziehung, zur Intellektualisierung, Psychologisierung, Literarisierung, Radikalisierung oder, um das politische Wort nicht zu scheuen, zur Demokratisierung Deutschlands mehr beigetragen als irgend jemand...unser gesamtes Zivilisationsliteratentum\" habe, so Mann, bei ihm schreiben gelernt. Nietzsche, rühmt er weiter, \"verlieh der deutschen Sprache eine Sensität, Kunstfertigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft - ganz unerhört bis dahin und von unentrinnbarem Einfluss auf jeden, der sich nach ihm deutsch zu schreiben erkühnte.\" Während der Weimarer Republik wandte sich Mann als Vernunftrepublikaner freilich brüsk von Nietzsche ab und damit von seiner eigenen Verführbarkeit.
1941 apostrophierte er Nietzsche als\"den Urheber wohl der faszinierendsten und farbenvollsten philosophischen oder lyrisch-kritischen Produktion unseres Zeitalters\". In zwischen hatt auch Mann erkannt, dass er wie viele andere Nietzsche-Verehrer den Philosophen lange Zeit viel zu wörtlich genommen hatte, eine Einsicht, die übrigens von Karl Jaspers stammt.
1947 hat Mann \"Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung\" kritisch betrachtet und festgestellt, \"in mehr als einem Sinne ist Nietzsche historisch geworden.\" Dieser Essay, in dem sich Thomas Mann zu Nietzsche recht distanziert äußerte, hat viele dazu verführt, den Dichter als Kronzeugen im Prozess gegen den Philosophen als einen Wegbereiter Hitlers aufzurufen. Aber dazu taugt dieser Essay nur bedingt. Thomas Mann hat sich immer gegen jene verwahrt, die nach 1945, weil der Augenblick günstig schien, \"simple Broschüren\" gegen Nietzsche schrieben. Wieviel von Nietzsches Immoralismus stecke schon in Goethes naturfrommen Antimoralismus, rief er aus. \"Damals konnten noch alle schön, heiter und klassisch sein. Dann wurde es grotesk, trunken, kreuzleidvoll und verbrecherisch. Das ist der Gang des Geistes, der Gang des Schicksals\", schrieb Mann in einem Brief von Dezember 1947.
In seinem letzten Lebensjahrzehnt ringt er sich zu einem Bekenntnis zu Nietzsche durch und sagt, er glaube nicht, dass Nietzsche den Faschismus, sondern umgekehrt dieser ihn \"gemacht\" habe. Gottfried Benn gab in diesem Zusammenhang zu bedenken:\"Was kann Nietzsche dafür, dass die Nazis bei ihm ihr Bild bestellten?\"
Es sei sogar möglich, Nietzsche einen Humanisten, einen Wissenden des Menschenlebens zu heißen, meinte Thomas Mann, der in Nietzsche in erster Linie einen Diagnostiker des Großfaschismus und eines planetarischen Faschismus gesehen hat, da er davon überzeugt war, dass zwischen Faschismus und Nietzsche keine Übereinstimmung besteht. Man dürfe Nietzsches diagnostische Haltung nicht schon als Zustimmung betrachten. Ernst Jünger drückte sich noch schärfer aus. Nietzsche, so Jünger, habe die geistige Katastrophe erfasst. Das sei schrecklich genug gewesen, daran zu zerbrechen \"war das Schicksal Nietzsches, den zu steinigen heute zum guten Ton gehört. Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taten büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will.\"
Aber nochmals zurück zu Thomas Mann. Eine Erkenntnis Nietzsche hat dieser Dichter sein Leben lang beibehalten:die der Isolation des Geistigen, des Künstlers in der Gesellschaft. Sie bestätigte sein eigenes Erleben. Thomas Mann sprach auch davon, dass sich beim Nietzsche-Leser \"die Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen\" einstelle. \"Es ist das tragische Mitleid mit einer überlasteten, überbeauftragten Seele\", sagte Thomas Mann und bedauerte, dass dessen Leben und Werk jetzt eher im pathologischen Sinne gedeutet würden.
Am Ende seiner lebenslangen Nietzsche Auseinandersetzung erweiterte er dann den Bedeutungsrahmen: \"Wahrlich nach einer Gestalt, faszinierender als die des Einsiedlers von Sils Maria, sieht man sich in aller Weltliteratur und Geistesgeschichte vergebens um.\"
Außerhalb des deutschen Sprachraums wurden ebenfalls viele Schriftsteller von Nietzsche beeinflusst - in England: Oscar Wilde, George Bernard Shaw (Shaw benutzte den Philosophen als Hintergrund einer Liebeskomödie, sein Übermensch erfuhr hier eine ironische Zuspitzung), William Butler Yeats, Herbert George Wells, David Heinrich und Thomas Edward Lawrence; in Frankreich: André Malraux, André Gide, Marcel Proust, Guilleaume Apollinaire, Jean Paul Sartre, und Albert Camus - Nietzsches Einfluss auf Jean Paul Sartre wird deutlich in seinen Dramen \"Die Fliegen\" und \"Der Teufel und der Liebe Gott\", auf George Bernanos im\"Tagebuch eines Landpfarrers\" und auf Albert Camus in seinem Gesamtwerk - in Italien: Italo Svevo, Gabriele d`Annuncio, Filippo Tommaso Marinetti, in Griechenland Nikos Kazantzakis, in den USA Jack London, Theodore Dreiser, Eugene O\'Neill, in Irland James Joyce (Dieser hat Nietzsche früh gelesen. Sein Frühwerk, sagen Kenner, zeige deutlichen Nietzsche-Einfluss, auch wenn Nietzsches Name darin nicht vorkommt, so stecke er überall im Werk des James Joyce, wenn auch versteckt) und in Schweden August Strindberg, der übrigens alle seine Briefe an seine Freunde mit der Aufforderung beendete:\"Lest Nietzsche!\"
Nietzsches Fragen und Verdikte
Nietzsches Stimme wurde gehört, weil er am lautesten und radikalsten Fragen aussprach, die nach ihm noch viele bedrängten. Insbesondere sein Verdikt\"Gott ist tot\" nahmen nicht wenige Dichter auf - bis in unsere Gegenwart. Denn das Paradox des modernen Menschen, so hat es Heiner Müller einmal ausgedrückt, liege darin, dass für viele Gott zwar tot, das Götterbedürfnis aber geblieben sei. Menschen, die verzweifelt sind, Gott suchen und nicht finden, weil er für die Welt, zumindest aber für viele Autoren und ihre Figuren, inexistent geworden ist, bevölkern die Belletristik zuhauf, jüngstes Beispiel ist Maxim Billers Roman \"Die Tochter\".
\"Der Übermensch\", den später eine oberflächliche Auslegung
als eine biologische Höherentwicklung des Menschen deutete,
hat in der modernen Literatur ebenfalls Furore gemacht. Leo
Berg schrieb bereits 1897:\"Nachdem Nietzsche . .sein Zauber-
wort ausgesprochen hatte, war in Deutschland plötzlich alles
Übermensch. . Man machte Schulden, verführte Mädchen und besoff sich, alles zum Ruhme Zarathustras.\" Der Übermensch als Züchtung war für die Menschen der Jahrhundertwende europaweit eine Utopie, nicht nur in Deutschland war die geistlose Perversion von Nietzsches Übermensch gefragt. Auch in Italien stand der Superuomo hoch im Kurs, mit ihm leitete D\'Annunzio den Faschismus ein. Der Erfinder des Wortes Superman war übrigens George Bernard Shaw mit seiner Komödie\"Man and Superman. A comedy and a Philosophy\" Anfang des Jahrhunderts. Als Frau trat der Übermensch übrigens nicht in Erscheinung.
In Amerika kam der Overman oder Superman literarisch in Mode. Heute feiert der Übermensch fröhliche Urständ nur noch in ironisierter oder trivialisierter Form in Comics, Filmen oder in den unsäglichen Reihen über Batman,Superman und ähnliche Helden. Aber kein bedeutender Dichter hat den Zentralgedanken von Nietzsches Philosophie-den der ewigen Wiederkunft-ernsthaft aufgegriffen.
Nietzsche und die Gegenwartsliteratur
Und wie steht es heute mit Nietzsches Stellenwert in der Gegenwartsliteratur? Während des Zweiten Weltkriegs sollen, wie im Ersten Weltkrieg, manche Soldaten neben Goethes \"Faust\" auch Nietzsches \"Zarathustra\" im Gepäck gehabt haben. Auch der junge Martin Walser war, wie aus seinem Buch \"Der springende Brunnen\" hervorgeht, mit Nietzsches Zarathustra wohl vertraut gewesen, als er als junger Soldat im letzten Kriegsjahr eingezogen wurde, während der früh verstorbene Wolfgang Borchert(1921-1948), schreibt Peter Rühmkorf in seiner Rowohlt Monographie, neben Barlach und Rilke auch Nietzsche immer dann anführte, \"wo er sich und die eigene Brüchigkeit meinte.\"
Nach 1945 fühlte man sich genötigt, behauptet Johann Prossliner in seinem \"Lexikon der Nietzsche-Zitate\", sich von ihm zu distanzieren. Die Folge war, dass eine ganze Generation sich von Brecht und Kafka ernährte und \"Nietzsche rechts liegen ließ\", so dass nach dem Krieg bei den jüngeren Literaten Nietzsche eigentlich kein Thema mehr war. Was ab 1955 im deutschen Sprachraum an literarischen Äußerungen kam, sind Marginalien, Zitate, Randnotizen, kaum der Rede wert gewesen. Bei Alfred Andersch etwa und Thomas Bernhard tauchen Nietzsche-Gedanken beiläufig in den Texten auf. Arno Schmidt rechnete, nörgelnd, skurril und lamentierend, mit dem \"Machtverhimmler ab, \"dem maulfertigen Schuft, dem gewetzten Wortformer\" und äußerte sich, wenn er gelegentlich auf ihn Bezug nahm, nur abfällig über ihn. Es gibt zwar \"Dummheiten und Irrtümer, die kompromittieren, wenn man sie nicht einmal beging\", dazu gehört, \"als junger Mensch, so bis 25, Nietzsche für\'n Halbgott zu halten\", liest man in \"Die Umsiedler\". Paul Celan arbeitete jetzt mit vornehmen Andeutungen, Friedrich Dürrenmatt las Nietzsche in einem Café, während er die Schule schwänzte. Doch im Werk des Schweizer Weltbürgers und Moralisten Max Frisch etwa sucht man den Namen Nietzsche vergebens. Er erwähnt seine Nietzsche-Lektüre in den Tagebüchern und in \"Montauk\" nur sehr kurz und respektvoll. Heiner Müller verhält sich in seiner Nietzsche-Akzeptanz ebenso. Aber es sind immer nur wenige Stellen, die das Thema anklingen lassen, so auch bei Ernst Meister und Ingeborg Bachmann in ihrem Roman \"Malina\" - ein Splitter nur und der jeweils in großer Distanz. Peter Handke beschimpft Nietzsche als \"einen der größten Kindsköpfe\", fügt aber hinzu,, er sei einer der liebenswertesten Menschen gewesen, eigentlich kein Philosoph, sondern ein Schriftsteller, der gar Schönes über die Kunst gesagt habe. Nietzsche gehört eindeutig zu den Verlierern des Zweiten Weltkriegs Wer sich nach 1945 mit ihm befasste, kritisierte seine Lehre aus religiösen, moralischen und politischen Gründen. Freilich bedeutete diese Kritik nicht das Ende seiner Wirkung.
Um so eifriger und unablässiger wurde Nietzsche in Frankreich rezipiert durch den Strukturalismus, durch Philosophen wie Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und später von den Postmodernen, in Amerika durch Walter Kaufmann, in Italien durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Jedenfalls wurde Nietzsches Erbe nach 1945 von Franzosen, Italien und Amerikanern besser verwaltet als von Deutschen.
Während es jedoch in der Bundesrepublik, also im westlichen Teil Deutschlands, jederzeit möglich war, sich mit Nietzsche auseinanderzusetzen, verweigerte ihm die DDR die Einreise. Hier wurde nur gelegentlich unter Dichtern und Literaten über den offiziell Verfemten und Verpönten diskutiert, was sicherlich auf die Dauer nicht ohne Wirkung blieb. Denn der 1960 in Thüringen geborene Michael Schindhelm erzählt in seinem autobiographisch gefärbten Erstling \"Roberts Reise\" von dem Diebstahl einer zerlesenen Zarathustra-Ausgabe in der Technischen Hochschule Fichtenburg. In den Augen von Wolfgang Harich war Nietzsche freilich, wie es auch die offizielle Version vorschrieb, ein \"nichtswürdiger Abschaum\" und sein Nachlass eine \"Riesenkloake\". Auch Johannes R.Becher, ein bekannter DDR-Dichter, spürte eine \"instinktive Abneigung\" gegen Nietzsches Werk. Er habe nicht vermocht, dieses raffinierte Blendwerk\" zu durchschauen. \"Lenin vor allem verdanke ich es, dass ich mich befreite von den Provokationen eines Nietzsche.\" Er habe dann, bekennt Becher, in Maxim Gorki die Alternative gesehen.
Das Nietzsche-Archiv war noch in der Sowjetischen Besatzungszone geschlossen worden und wurde erst 1991 wieder eröffnet. Dennoch setzte in Ostdeutschland schon 1986 eine weitreichende und verständnisvolle Neubewertung Nietzsches ein als Signal für einen allmählichen Wandel des geistigen und politischen Klimas im östlichen Deutschland. Aber die Veröffentlichung der Schriften Nietzsches blieben reglementiert.( Die Nietzsche-Rezeption in der DDR ist übrigens ein Kapitel für sich, sie kann hier nur kurz angedeutet werden.)
Gegenwärtig übt Nietzsche eher indirekte Wirkungen aus. Seine geistigen Erfahrungen werden gleichsam unterirdisch, untergründig weiter getragen und aufgenommen, ohne dass die
Quelle jedem noch bewusst ist. Grass macht es beispielsweise
nichts aus, weil ihm so viel einfällt, auch mal Nietzsche oder eben Böll oder Claudel oder Frisch sozusagen weiterzuschreiben. Nicht nur im \"Butt\", aber hier ganz besonders, wimmelt es bei ihm von Nietzsche-Analogien. Botho Strauß ist ebenfalls, so in \"Paare, Passanten\", ein gelegentlich und unaufdringlich ins Denkspiel gezogener Kronzeuge. Allerdings meint Matthias Politycki, Botho Strauß habe \"den Willen zur Macht\" nur als das seelenlose \"Böse auf Erden\" zu verdauen gewusst. Umberto Eco hat sich Nietzsches Positionen, auffällig besonders im \"Namen der Rose\", zu eigen gemacht. Matthias Politycki vergleicht Nietzsche sogar mit Michael Endes \"Scheinriesen\" aus \"Jim Knopf und der Lokomotivführer\": \"Furchterregend aus der Ferne, bei näherem Kennenlernen jedoch überängstlich und \'delicat\'\". Und wenn es in einer Erzählung von Peter Stamm heißt:\" Glück ist, das zu wollen, was man kriegt\", fühlt man sich unweigerlich an Nietzsches Amor fati erinnert. Nadolny äußert sich in \"Entdeckung der Langsamkeit\" über Krankheit geradezu im Nietzsche\'schen Sinne, wenn er behauptet: \"Krankheit war keine schlechte Methode, um den Überblick wiederzugewinnen.\"
Gerade jüngere Literaten beschäftigen sich heute wieder mit Nietzsche, insbesondere der Lyriker und Essayist Durs Grünbein und der Romancier und Essayist Matthias Politycki. Wie sehr der Verlust des Ewigkeitsanspruchs, den der Mensch als Geschöpf Gottes einst zu haben glaubte, dem modernen Bewusstsein auch heute noch zu schaffen macht, geht aus einem Gedicht von Durs Grünbein hervor. \"Was du bist, steht am Rand/Anatomischer Tafeln.! Dem Skelett an der Wand/Was von Seele zu schwafeln/Liegt gerad so verquer/ Wie im Rachen der Zeit! (Kleinhirn,Stammhirn her)! Diese Scheiße Sterblichkeit.\"
Im Ganzen gesehen ist Nietzsches literarischer Einfluss geringer geworden, gemessen an den theoretischen Abhandlungen über den Philosophen Friedrich Nietzsche. Doch hin und wieder wird auch in literarischen Zusammenhängen sein Name noch genannt. Hier zwei Beispiele: Im März 2000 wurde in Paris ein Theaterstück von Richard Foreman auf geführt mit dem Titel\"Bad boy Nietzsche\". Es erntete überwiegend schlechte Kritiken, weil es ein halbes Jahrhundert zu spät gekommen sei. Es zeige zwar, wie sehr die Menschen verzweifeln, wenn sie für das eigenen Handeln keine Maßstäbe mehr haben. Aber das Stück sei doch, befanden Kritiker, eine anbiederische anachronistische Verweigerung von Religion und
Philosophie, in der man sich lustig mache über Gott und alle
Denker, also auch über den Herrn Nicht(gemeint ist damit Nietzsche) \"diesen Kasperl\".
Udo Marquardt nimmt es auf die leichtere Schulter und teilt uns in \"Spaziergänge mit Sokrates\" seine eigenen Entdeckungen mit. Nietzsche habe, fand Marquardt heraus, sogar Fernsehkritik geübt und in seiner Schrift \"Nietzsche contra Wagner\" darauf hingewiesen, dass es eine Sache der Schicklichkeit sei, \"dass man nicht alles nackt sehn, nicht bei allem dabei sein, nicht alles verstehen und wissen\" müsse. Licht aus, habe Nietzsche gefordert. Denn wer alles sieht, ist unanständig, und das gilt bei Nietzsche, der mit dem Hammer philosophieren wollte, sogar für Gott. In einer kleinen ironischen Geschichte lässt er ein kleines Mädchen seine Mutter fragen:\"Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist\", und als das kleine Mädchen erfährt, dass der liebe Gott alles sieht, sagt es nur:\"Ich finde das unanständig. \"Außerdem beweist das Fernsehprogramm, so Marquardt, Nietzsches Theorie von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
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