1.1. Leben
Stefan George wird 1868 in Büdesheim bei Bingen geboren, besucht das Gymnasium in Darmstadt und studiert später Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin, München und Paris. Bereits als Schüler betätigt er sich als Herausgeber einer Zeitschrift ("Rosen und Disteln"), in der ausdrücklich keine Artikel religiösen oder politischen Inhalts abgedruckt werden, was bereits die spätere georgesche Programmatik andeutet. In Paris lernt George den Lyriker Albert Saint-Paul kennen, der ihn Stéphane Mallarmé vorstellt. Mallarmé, einer der Begründer des französischen Symbolismus und der poésie pure, versteht den Dichter nicht nur als perfekten Meister der Sprache, sondern mehr noch als einen in die Mysterien eingeweihten Seher; Dichten bedeutet für ihn daher einen abgezogenen, esoterischen Vorgang, das Geheimnis schlechthin. "Soziologisch handelt es sich um die Bildung einer Elite aus Protest gegen die Massen, gegen die Demokratisierung von Kunst und Literatur." Der Kontakt mit Mallarmé und anderen französischen Symbolisten leitet George zur elitären Kunstauffassung des l'art pour l'art hin, aus der er seine sakrale Auffassung von Kunst und Poesie entwickelt.
Die Begegnung mit dem Symbolismus führt George zu der Absicht, in Deutschland ähnlich wirksam zu werden wie Mallarmé und sein Kreis in Frankreich; die neue französische Dichtung wird ihm zum Vorbild seiner Poesie. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versammelt er literarische Gefährten um sich - im Gegensatz zum späteren Kreis noch Gleichaltrige und Gleichberechtigte -, mit denen ihn die Idee verbindet, eine neue Kunst nach französischem Vorbild zu schaffen.
1891 kommt es zur ersten Begegnung zwischen George und Hofmannsthal, auf dessen - noch unter dem Pseudonym Loris veröffentlichte - Gedichte George aufmerksam geworden ist. George versucht verzweifelt, Hofmannsthal zum Freund zu gewinnen, dieser reagiert aber mit höflicher Zurückhaltung und wahrt Distanz. Es kommt schließlich zu einer schweren Auseinandersetzung, sogar zu einer Duelldrohung Georges, bis sich die Beziehung letztlich doch - zumindest nach außen - neutralisiert. Nach immer neuen Mißverständnissen endet ihr Briefwechsel 1906 aber endgültig.
Den Plan, eine Zeitschrift für die neue Dichtung zu gründen, verwirklicht George 1892 mit dem Erscheinen des ersten Bandes der "Blätter für die Kunst": "Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend." Dieses Programm entspricht den Forderungen der französischen Symbolisten. Die bis 1919 erscheinenden "Blätter für die Kunst" werden allerdings nicht als für den öffentlichen Buchhandel bestimmte Zeitschrift vertrieben, sondern als poetisches Forum für Freunde und Gleichgesinnte. Aus den Mitarbeitern der Zeitschrift entwickelt sich der "Kreis", der zunächst noch eine Gruppe von Gleichrangigen ist, bis George schließlich als "Meister" in den Mittelpunkt rückt. Eine besonders enge Freundschaft verbindet George ab dieser Zeit mit Karl Wolfskehl.
1890 lernt George Ida Coblenz kennen, die einzige Frau, mit der ihn eine längere und sehr enge Freundschaft verbindet, die allerdings erheblichen Schwankungen unterliegt. Erst als Ida Coblenz 1895 zunächst einen Kaufmann heiratet und später eine Beziehung zu Richard Dehmel eingeht, kommt es zwischen ihr und George zum Bruch.
Etwa 1895 beginnt sich in Berlin (George hat nie einen festen Wohnort gehabt) ein neuer Kreis von Gefährten um den Dichter zu bilden. Im Haus des Malerehepaars Reinhard und Sabine Lepsius kommt es zu den ersten Lesungen Georges vor einem geladenen Publikum. Nach den Berichten der Anwesenden soll von der Erscheinung Georges etwas "Dämonisches" ausgegangen sein. Außerdem lernt George den Grafiker und Glasmaler Melchior Lechter kennen, dessen feierlicher Jugendstil fortan den Ausstattungsstil der georgeschen Gedichtbände entscheidend beeinflußt.
Zu dieser Zeit beginnt sich George bereits vom l'art pour l'art seiner Pariser Anfänge zu entfernen; seine Bemühungen zielen nicht mehr nur auf eine neue Kunst, sondern auf ein neues Leben, zu dem die Kunst hinzuführen hat.
Nach dem Bruch Georges mit den Kosmikern (1903), einer Runde um Alfred Schuler und Ludwig Klages, die eine Lehre entwickelt haben, wonach die abendländische Geschichte von Beginn an eine Welt des Verfalls und Untergangs gewesen sei, die nur durch die Rückkehr zu den heidnisch-chtonischen Ursprüngen gerettet werden könne, werden vermehrt jüngere Männer in den Kreis um George aufgenommen, wodurch sich Georges dominierende Rolle festigt. Friedrich Gundolf erkennt in George als erster den "Meister"; aus einer Gruppe Gleichgesinnter und Gleichberechtigter wird so "eine nach Rangordnungen organisierte Gefolgschaft, wobei der Wert des Einzelnen sich aus seiner Nähe zum Meister bestimmt." George spricht seine "Jünger" mit "Kind" an und liebt es, unnachsichtig Weisungen und Zurechtweisungen zu geben; die Begeisterung der Jüngeren für George schafft um ihn eine "Aura der Unangreifbarkeit und Unvergleichbarkeit" , entrückt ihn ins Legendäre.
George strebt eine von ihm geführte Elite an, eine geistige Bewegung zur kulturellen Erneuerung Deutschlands; kulturpolitische Tendenzen ersetzen die vormals rein künstlerischen. Direkte Aktionen in der Öffentlichkeit lehnt George zwar weiterhin ab, er schreibt jedoch: "Neuer Bildungsgrad (Kultur) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird." Die häufige Verwendung des Wortes "deutsch" markiert eine Hinwendung zum nationalen; George beginnt die Sammlung "Deutsche Dichtung" herauszugeben und beschäftigt sich ausführlicher mit Nietzsche, Dante und Hölderlin. Er entwirft ein Bild vom Dichter als Seher und Künder; der Dichter will nicht mehr nur Meister der Worte sein, sondern Geheimniskundiger, Prophet: "[...] an die Stelle des Artisten tritt der Priester."
Als zentrales Ereignis in Georges Leben gilt seine Begegnung mit dem vierzehnjährigen Max Kronberger (George nennt ihn Maximin), den er ab Januar 1903 regelmäßig besucht. Er spricht mit ihm über Kunst und Dichtung, nimmt ihn zu seinen Freunden mit und bemüht sich um seine Zuneigung. Der plötzliche Tod des Jungen (1904) trifft George schwer: "Ich war die ganze zeit zum arbeiten wie zum entschluss unfähig - [...] der geist tritt mit jeder woche in einen anderen kreis des leidens [...]." 1906 veröffentlicht George Gedichte an Max Kronberger unter dem Titel "Maximin. Ein Gedenkbuch", eine "Manifestation des Kult-Bildes, zu dem der Tote erhoben wird." George schafft den Mythos "Maximin" als dem im Menschen erschienenen und erschauten Gott; im Vorwort zum Maximin-Gedenkbuch schreibt er: "Das ganze getriebe unsrer gedanken und handlungen erfuhr eine verschiebung seitdem dieser wahrhaft Göttliche in unsre kreise getreten war. [...] Wir fühlten wie geringfügig alle streite der länder alle leiden der kasten werden vorm dämmerschauer der grossen erneuungstage: wie alle brennenden fragen der gesellschaften in wesenlose finsternis verblassen wenn nach jeder ewigkeit den irdischen sich ein erlöser offenbart." Aus einem toten Jungen bildet George so den Gott Maximin - Schonauer schreibt dazu: "[...] die Krise, in der der mythische Dichter sich befindet, da er seinen Anspruch in der modernen, rational erhellten Welt auf kein göttliches Geheimnis mehr beziehen kann, soll überwunden werden mittels eines Kultus, der nur als Ausdruck dieser Krise begreiflich ist."
In "Der siebente Ring" (1907) tritt George als Ankläger der Gegenwart und Künder der Zukunft auf, beides bezogen auf Maximin, das Erlebnis der Verleiblichung eines Gottes im Menschen. Sein Interesse gilt nicht mehr nur der Dichtung, sondern dem Kultur- und Geistesgeschichtlichen und Politischen; 1910 erscheint im Verlag der "Blätter für die Kunst" "Das Jahrbuch für die geistige Bewegung", das kulturpolitische Aufsätze beinhaltet: Die Autoren (aus dem George-Kreis) "wollen nicht die fülle des interessanten, reizvollen, aufregenden vermehren, sondern in der jugend das gefühl für die gefährdeten grundkräfte wachrufen: für ernst, würde und ehrfurcht." George selbst beschwört in seinen Gedichten Gestalten der großen deutschen Vergangenheit, die Geschichte wird mythologisiert; er fühlt sich als "Führer des geheimen und besseren Deutschland [...] und Erzieher einer neuen Jugend" .
Im Ersten Weltkrieg sieht er jedoch keinen Weg zur Durchsetzung dieses "neuen Reiches", sondern versteht ihn als unwiderlegbares Zeichen für die Verderbtheit der Zeit; er nimmt an den kriegerischen Geschehnissen nur distanziert Anteil. Die Erneuerung der Welt muß aus dem inneren Deutschland kommen, von einigen wenigen Auserwählten.
Ab 1920 häufen sich die Konflikte Georges mit seinen Freunden (George wird immer entschiedener in seinen Forderungen), er endet in Einsamkeit und Isolation; seine Mission als Rufer zu Bund und Staat ist gescheitert. 1930 äußert George gegenüber Freunden: "Was ich sehe kann ich Euch gar nicht alles sagen. Aber Ihr werdets alle noch erleben und ausbaden. Und es wird noch viel wüster kommen." Nach Gesinnung und Haltung war es George nie möglich, sich mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren; dennoch gilt George nach der Machtübernahme Hitlers für eine Weile an den Schulen und Universitäten als Dichter der "neuen Zeit". Erst nach seinem Tod wendet sich die nazistische Polemik gegen George; sein Schweigen auf alle Ehrungen dürfte endlich als Ablehnung verstanden worden sein.
Im Herbst 1933 erkrankt George schwer, im Dezember stirbt er.
1.2. Poetik
Der Abgeschlossenheit von Georges Lebensführung entspricht die Esoterik seiner Dichtung. Bereits als Gymnasiast versucht George eine eigene, ausschließlich zum dichterischen Gebrauch bestimmte, wohltönende Sprache zu erfinden. Seine Kunsttheorie äußert er hauptsächlich in den Einleitungen und in den "Merksprüchen" seiner "Blätter für die Kunst". Georges Dichtung und ihre theoretische Rechtfertigung können insgesamt als deutsche Dokumente des französischen Symbolismus verstanden werden.
Der Symbolismus zeigt sich als eine idealistische, spiritualistische Kunst, die (im Gegensatz zum Impressionismus) auf Konzentration hinzielt. "Das Symbol oder Sinnbild ist ,ein Gebilde, dem von einer bestimmten Gruppe von Menschen ein besonderer, durch das Wesen des Gebildes (im Gegensatz zur Allegorie) nicht nahegelegter Sinn verliehen worden ist' und das daher ,den Charakter des Geheimzeichens, zum mindesten des Verabredeten' trägt. Die symbolistischen Dichter gehen von der Vorstellung eines hintergründigen Zusammenhangs alles Seienden aus. Der von ihnen gemeinte Sinn ist oft ein den Dingen zugrunde liegendes unfaßbares, unsägliches und unendliches Geheimnis, das nur durch die suggestive Kraft vollendeter sprachkünstlerischer Gestaltung magisch-mystisch beschworen werden kann. Das folgerichtige Ergebnis dieser irrationalen Welt- und Kunstanschauung ist eine anspruchsvolle hermetische poésie pure, die nur von einem erlesenen Kreis eingeweihter Kunstverehrer richtig aufgenommen werden kann."
Die schon besprochenen französischen Vorbilder dieser Bewegung sind u.a. Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, von deren Dichtungen George einen Großteil ins Deutsche überträgt. Damit bahnt sich George den "Weg zu einer eigenen Dichtersprache nicht über die Anlehnung an Vorbilder aus der deutschen Literatur" , sondern durch Übersetzen französischer Dichter. Er verdeutscht aber auch die Sonette Shakespeares sowie Teile aus Dantes "Göttlicher Komödie".
Hauptthemen von Georges lyrischem Werk sind Natur, Kunst und Freundschaft. Bezeichnend ist der starke Individualitätsanspruch seines Werkes, der sich in ausgesuchten sprachlichen und formalen Mitteln manifestiert: Neben der konsequenten Kleinschreibung und eigenwilligen, meist fehlenden Zeichensetzung legt George großen Wert auf eine ästhetisch anspruchsvolle Typographie; er glaubt, "nur die sorgfältige, schöne Handschrift [sei] als Form der Wiedergabe der Poesie angemessen" und zwingt seine Jünger zu Schönschrift-Übungen. Selbstverständlich baut er nur streng geformte Verse und reichert seine Sprache mit "kostbaren Schmuckwörtern" an.
Sein Streben nach Schönheit und ästhetisch-vollendeter Form ist allerdings weitgehend befreit von ethischer Bindung, dem Moralischen sogar entgegengesetzt. So kultiviert er einen ästhetischen Amoralismus, der in Verachtung der Menschenmenge und des Allzu-Gewöhnlichen ausschlägt.
Nicht zuletzt diese Haltung ruft heftige Kritik hervor; Brecht etwa schreibt: "Ich selber wende gegen die Dichtungen Georges nicht ein, daß sie leer erscheinen: ich habe nichts gegen Leere. Aber ihre Form ist zu selbstgefällig. Seine Ansichten scheinen mir belanglos und zufällig, lediglich originell. Er hat wohl einen Haufen von Büchern in sich hineingelesen, die nur gut eingebunden sind, und mit Leuten verkehrt, die von Renten leben. So bietet er den Anblick eines Müßiggängers, statt den vielleicht erstrebten eines Schauenden." Auch Eugen Gottlob Winkler kritisiert: "Die Form, die er bildet, ist leer und tot, sein Ideal, selbst in seiner Verwirklichung, ein Phantasiegebilde, und seine Erscheinung, bei aller Großartigkeit ihrer Konsequenz, eine ungeheuerliche Pose." Dagegen Adorno: "Am hohen Stil ist keine Sekunde Zweifel. [...] [George] fügt Zeilen zusammen, die klingen, nicht als wären sie von ihm, sondern als wären sie von Anbeginn der Zeiten da gewesen und müßten für immer so sein."
1.3. Werke
Hymnen (1890)
Pilgerfahrten (1891)
Algabal (1892)
Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten (1895)
Das Jahr der Seele (1897, erweitert 1899)
Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (1900)
Der siebente Ring (1907)
Der Stern des Bundes (1913)
Das neue Reich (1928)
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