Nathan der Weise
Eine Lösung der Diskrepanz zwischen der tatsächlichen, in »Dissonanzen« gefangenen Welt und dem nach Lessings Anschauung von der Vorsehung geordneten Idealzustand - dem letztendlichen geschichtsphilosophischen Ziel alles Handeln des Menschen - zeigt der utopische Entwurf Nathan der Weise auf, Lessings letztes Theaterstück, das 1779 erschien.
Ihm ging der sogenannte \'Fragmentenstreit\' voraus. Als Bibliothekar in Wolfenbüttel hatte Lessing 1774 in der Reihe Beiträge zur Geschichte der Literatur das Fragment Von Duldung der Deisten herausgegeben, ohne dessen Verfasser zu nennen; 1777 folgte Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend. Die Manuskripte waren Teil der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes des 1768 verstorbenen Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus, der darin die Genese des Christentums als Betrug der Apostel Christi darstellte.
Die Veröffentlichung stieß sofort auf Kritik, als mächtigster Gegner Lessings erwuchs der Hamburger Hauptpastor Goeze. In der polemisch geführten Auseinandersetzung standen sich zwei unversöhnliche Seiten gegenüber: dort, auf Seiten Goezes, die orthodoxe Buchstabengelehrsamkeit, die stur auf den Machtinteressen von Staat und Kirche beharrte, hier, auf Seiten Lessings, der in den Anti-Goeze-Schriften die Vorwürfe konterte, die kritisch gebrauchte Vernunft, die als einzige Autorität nur sich selbst verpflichtet ist und der sich auch Staat und Kirche nicht entziehen können.
Durch das 1778 ausgesprochene Verbot des Braunschweiger Herzogs, weitere Schriften gegen Goeze zu publizieren, kam Lessing der Gedanke, das Problem des Wahrheitsanspruchs der Religionen in einem Theaterstück zu behandeln. Er erinnerte sich an einen früheren Entwurf, »dessen Inhalt eine Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat, die ich mir damals wohl nicht träumen ließ«. In relativ kurzer Zeit entstand das »dramatische Gedicht« Nathan der Weise.
Kernstück des Dramas ist die von Boccaccio übernommene Ringparabel. Der in Finanznöten sich befindende Saladin bittet Nathan zu sich, um bei ihm Geld zu leihen. Nicht ohne Hintergedanken - sowohl, um ihn kennenzulernen, als auch, um ihn in Verlegenheit zu bringen - stellt er ihm die Frage nach der wahren Religion. Nathan ist zunächst überrascht:
Hm! hm! - wunderlich! - Wie ist
Mir denn? - Was will der Sultan? was? - Ich bin
Auf Geld gefaßt; und er will - Wahrheit. Wahrheit!
Und will sie so, - so bar, so blank, - als ob
Die Wahrheit Münze wäre!
Mit seiner Erzählung von den drei Ringen, die nicht zu unterscheiden sind, verlagert Nathan das theoretische Problem des Wahrheitsanspruchs der Religionen auf die praktische Ebene; weder führt er Vernunftgründe an, die für die Wahrheit einer der drei Religionen sprechen würden, noch will er den Streit durch die Hinwendung zu einer Vernunftreligion beenden. In der Parabel läßt Nathan den Richter lediglich einen Rat aussprechen:
[...] Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. [...]
[...] - Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring\' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf\'!
Was der Richter fordert, sind Toleranz und Humanität, ist das sittliche Verhalten der Gläubigen als Gradmesser für den rechten, wahren Glauben.
Als Vertreter dieser über ideologische Grenzen hinwegsehenden sittlichen Haltung wird der Jude Nathan dargestellt. Obwohl seine Familie von christlichen Kreuzrittern ausgerottet wurde, nimmt er - anstatt Rache und Vergeltung zu fordern - die verwaiste Christin Recha als Tochter an. Durch sein Beispiel wird auch der Tempelritter zu vorurteilsfreier, von religiösen Differenzen unbefangener Menschlichkeit geführt.
Ihnen gegenüber stehen - als Negativbeispiele - die kleinliche, engstirnige Daja und der machtbesessene, intrigante Patriarch, der Züge Goezes trägt. Die idealistische Tendenz des Stückes verurteilt ihr Handeln jedoch zur Wirkungslosigkeit.
Ganz bewußt rückte Lessing das Stück in zeitliche und räumliche Ferne. Ort und Zeit, das mittelalterliche Jerusalem während der Kreuzzüge, und das Ende, das Christen, Juden und Mohammedaner unter allseitiger Umarmungen zeigt, nachdem sie ihre Verwandtschaftsbeziehungen entdeckt haben, verleihen dem Stück eine märchenhafte, utopische Atmosphäre.
Eine Aufführung erlebte das Stück zu Lebzeiten Lessings nicht. Lessing selbst äußerte sich skeptisch über die Wirkung des Stücks und die Möglichkeit, es an deutschen Bühnen aufzuführen. An seinen Bruder Karl Gotthold schrieb er:
Es kann wohl sein, daß mein Nathan im ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.
Erst in der Bearbeitung Schillers gelangte das Werk 1801 in Weimar auf die Bühne und gehört seitdem zum festen Repertoire deutscher Theater.
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