Dantons Tod
Das nihilistische Extrem des historischen Diskurses markiert eine Art Nullstufe des gesellschaftlichen Bewußtseins, das erst jenseits der öffentlichen Sphäre politischen Handelns einen Ansatz zu neuer Entfaltung findet. Eine sinnhafte Aneignung des Todes gelingt allein im Bereich der privaten Existenz, im Zusammenhang einer in die Lebensgeschichte des Individuums eingebundenen Liebesbeziehung. Dem restlosen Scheitern öffentlicher Beziehungen wird in Dantons Tod auf provozierende Weise das Gelingen privater Bindungen in Liebe und Freundschaft gegenübergestellt. Die Funktion der Privatsphäre im Drama der politischen Revolution hat besonders in jüngster Zeit das Interesse der Forschung hervorgerufen. Von den drei Frauenfiguren, deren Existenz am Rande der Geschichte die Sphäre der privaten Beziehungen prägt, hat besonders Marion - im Gegenzug zu früheren moralisch bestimmten Verzeichnungen - eine entschiedene Aufwertung erfahren. Die Grisette aus dem Palais royal erscheint Reinhold Grimm als eine »Inkarnation sexueller Befreiung als das fleischgewordene Lustprinzip«. Mit der in Marion gestalteten »erotischen Revolution« trete Büchner - Freud, Reich und Marcuse vorausgreifend - den Kampf gegen die Tabuisierung der Sexualität an, proklamiere er eine »Liebesutopie«: ein Konzept befreiter, naturhafter Liebe mit dem Recht auf freie Partnerwahl. Trotz der Freude über den wahrlich befreienden Fund einer Sexualutopie, über die programmatische Ausrufung eines Reiches der Sinne in der ansonsten eher düsteren Kulisse der politischen Revolution drängt sich jedoch die Frage auf, ob die unverkennbar projizierende Aufwertung Marions zu einer KultFigur der sinnlichen Emanzipation nicht wichtige Relativierungen übersieht oder unterschätzt, denen diese im Drama unterworfen wird; ob so nicht einfach die negative Verzeichnung durch eine positive Umstilisierung der Figur in ihr Gegenteil verkehrt wird. Eine angemessene Deutung der Marion hätte insbesondere die Qualität des >Bruches< genauer zu bestimmen, den Marion in ihrer Lebensgeschichte erfahren hat. Dieser Bruch ist keineswegs allein die Folge einer bestimmten, regressiven Form der Vergesellschaftung von Sinnlichkeit, sondern er ist bereits in der restlosen, das Moment der Freiheit entbehrenden Hingabe an die eigene Natur als Triebnatur und in der daraus zwingend folgenden Unfähigkeit Marions zu einer genuin gesellschaftlichen Befriedigung der sich fürs Ganze der Natur setzenden sexuellen Bedürfnisse begründet. Weit eher als die sexuelle Emanzipation wird in Marion die asoziale Natur, die gescheiterte Vermittlung von Natur und Gesellschaft, thematisiert. Die absolute Bindungslosigkeit, die in der Dirnenexistenz die einzig mögliche soziale Lebensform findet, ist ein (zu) hoher Preis für eine zwanghafte >Befreiung< der Sinnlichkeit. Die MarionFigur gehört in den Zusammenhang des anthropologischen, im Stück zumeist sexuellobszön vermittelten Diskurses, der, analog zum politischen Diskurs, die ungelöste Aporie vergesellschafteter Natur problematisiert. Marion fungiert keineswegs als ein utopisch intendiertes Gegenbild. Ihre vermeintlich unbedingte Übereinstimmung mit sich selbst schuldet sie in Wahrheit einer unfreiwilligen Vereinseitigung der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Als »ein Stück Natur« verkörpert Marion nicht nur »den verlorenen Naturzustand [. . .] in der Geschichte«, sondern in gleichem Maße die Geschichtslosigkeit einer Natur, die jede Form der Vergesellschaftung zwanghaft verweigert. Was Danton an Marion erfährt, ist durchaus ambivalent. Marions Schönheit löst in ihm, der unterwegs ist, »die Mediceische Venus stückweise bei allen Grisetten des PalaisRoyal« zusammenzusuchen (18), ein Bedürfnis nach totaler Verschmelzung aus, dessen Befriedigung ihm gleichwohl vorenthalten bleibt. Danton, der das Ganze der Schönheit sucht, findet in Wirklichkeit nur einen ihrer Teile, der sich für das Ganze setzt und ihm gerade dadurch schmerzhaft die Entbehrung des Ganzen vor Augen führt. Die paradox gefügte Metapher: »deine Lippen haben Augen« (20) bezeichnet nicht nur Dantons Unfähigkeit zur völligen sinnlichen Hingabe, zeigt nicht nur die unvermeidlich reflexive Vermittlung des Erlebnisses sinnlicher Entgrenzung. Sie indiziert umgekehrt auch Marions Reduktion der menschlichen Natur auf ihre körper
lichsinnliche Dimension, die bei Danton gerade vermieden ist. Der Anspruch auf Totalität wird von Danton auch in seiner reflexiven Brechung voll aufrechterhalten; seine fehlende praktische Einlösung bleibt ihm jederzeit - mental und physischsinnlich - schmerzhaft bewußt. Die Begegnung mit der zeitlosstatischen MarionFigur hat auf Dantons letztem Weg den Charakter einer bedeutenden Episode. So wie der Protagonist auf der Ebene des politischen und des historischen Diskurses die gescheiterte Vermittlung von Subjektivität und Geschichte erfährt, so erfährt er an Marion die falsche Unbedingtheit einer nur unzureichend mit der Gesellschaft vermittelten Natur. Natur und Geschichte erscheinen so gerade im Scheitern ihrer Vermittlung mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen des Menschen kritisch aufeinander bezogen. Marion ist die unbedingte Hingabe in der Liebe zu einem anderen Menschen notwendig versagt. Sie bleibt ohne wirklichen Bezug zur Lebensgeschichte Dantons, der für sie nur eine mögliche Besetzung des >einen Gegensatzes< darstellt, der ihr Leben beherrscht: »Alle Männer verschmolzen in einen Leib« (19). Gerade hierin unterscheidet Marion sich von den beiden anderen Frauenfiguren in Dantons Tod, deren ganze Existenz auf das Leben des Geliebten ausgerichtet ist. Gleich zu Beginn des Dramas wird deutlich, daß Julie ihre Identität ganz auf ihre Beziehung zu Danton gründet. Die Privatheit ihrer Lebensform, jenseits der öffentlichen Rollenspiele der Politik, aber auch jenseits der witzigen Sprachspiele der Pointen, und die kompromißlose Beschränkung auf die intime Beziehung zum geliebten Partner ermöglichen Julie und nicht minder Lucile eine Existenz im Schatten der Geschichte.
Danton zeigt sich zunächst überfordert durch die einfache, unverstellte, vertraute Ansprache Julies. Er weicht aus, flüchtet ins Allgemeine; statt des »ich« wählt er das kollektive »wir« als Subjekt seiner begründeten Zweifel an den Prämissen gelingender zwischenmenschlicher Kommunikation (5). Und doch gewinnt Julie auf seinem letzten Weg zunehmend an Bedeutung. Die Rückkehr in den intimen Diskurs der privaten Existenz steht sichtlich in Zusammenhang mit dem Sinnverlust der öffentlichen Existenz und der drohenden Nähe des eigenen Todes, der im Rahmen des politischen und historischen Diskurses der Revolution als ein sinnloses Opfer erscheint. In Julie findet Danton eine bedingungs und grenzenlose Geborgenheit. Bereits in der Grabmetapher der ersten Szene, die Danton auf einem Schemel zu Füßen Julies zeigt, werden die Ruhe und die Geborgenheit, die Julies Liebe Danton verschafft, auf den Tod bezogen (5 f.). Die Tröstung, die Julie dann später dem von Schuldvorwürfen gemarterten Danton zukommen läßt, kennt zwar durchaus eine politische Dimension (vgl. 38 ff.), die beruhigende Ansprache ist aber in einem auf die Lebenswelt der privaten Existenz bezogenen Realitätsgefühl gegründet (39). Das intime Einverständnis der beiden wird schließlich in der gelingenden Kommunikation über die gemeinsame Bewältigung des Todes sichtbar. Unmittelbar im Anschluß an die enttäuschte Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung im Tod gedenkt Danton seiner Frau: »O Julie! Wenn ich allein ginge! Wenn sie mich einsam ließe! - Und wenn ich ganz zerfiele, mich ganz auflöste: ich wäre eine Handvoll gemarterten Staubes, jedes meiner Atome könnte nur Ruhe finden bei ihr« (62). Julie kennt Danton. »Er würde nicht allein gehn«, läßt sie ihm ausrichten (65). Danton versteht: »Ich werde nicht allein gehn: ich danke dir, Julie!« Wohl hätte er anders sterben mögen, »so wie ein Stern fällt, wie ein Ton sich selbst aushaucht, sich mit den eignen Lippen totküßt, wie ein Lichtstrahl in klaren Fluten sich begräbt.« (67 f.) Doch weiß Danton jetzt um die Mühen des Todes, und er weiß, gemeinsam mit Julie, dem Sterben eine menschliche Form zu geben. Im Tod erst findet Danton zurück zu einer Identität im Leben, die der eigenen Geschichte jenseits öffentlicher Rollen einen unbezweifelbaren Sinn verleiht. Auch Luciles Existenz steht ganz im Zeichen ihrer Liebe zu Camille. Stärker noch als Julie tritt sie der öffentlichen Sphäre der Politik fremd und verständnislos entgegen. Das politische Geschehen reduziert sich für sie auf die Frage nach dem Sinn des Opfers, das ihr im Verlust des Geliebten zugemutet wird (36 f.). Lucile verweigert dem öffentlichen Tod, der absurden politischen Realität der Terreur jeden Sinn, sie sperrt sich gegen die vernünftige Legitimation der Unvernunft. Ihr hellsichtiger Wahn, der in der Realität ihres Gefühls zu Camille gegründet ist, wird derart zum menschlichen Maß der Inhumanität und der Unvernunft der bürgerlichen Revolution: »Der Himmel verhelf ihr [Lucile] zu einer behaglichen fixen Idee. Die allgemeinen fixen Ideen, welche man die gesunde Vernunft tauft, sind unerträglich langweilig« (71). Einzig im Wahn Luciles bricht sich die Empörung über den absurden Ernst des Todes, über die öffentliche Hinnahme sinnlosen Sterbens Bahn. Luciles Schrei bleibt indes ohne Antwort. Sie schickt sich ins Unvermeidliche und sucht, wie Julie, den gemeinsamen Tod mit dem Geliebten. Doch gelingt ihr, der Unpolitischen, mit der Inszenierung des eigenen Todes eine grandiose Provokation, die den politischen Wahnsinn der staatlich gelenkten Todesmaschinerie wirksam unter Beweis stellt (77). Eine politische Phrase, ein ritualisiertes Erkennungszeichen, das Lucile mechanisch, ohne jeden Bezug auf ihre individuelle Existenz, öffentlich gebraucht, setzt berechenbar den grausamen Apparat der Massentötung »im Namen der Republik« in Gang. Hier erreicht die Revolte des Subjekts gegen die vernünftige Unvernunft des Allgemeinen ihren absurden Höhepunkt. Erst jetzt, in der provozierend privaten Inanspruchnahme des öffentlichen Terrors, gelangt der politische Diskurs über die Gewalt in der bürgerlichen Revolution zu seinem unmißverständlichen Ende. Mit dem politisch inszenierten Selbstmord setzt sich die private Existenz unübersehbar in einen radikal kritischen Bezug zur politischen Revolution. Die Sphäre der privaten Existenz fungiert keineswegs als ein unverbindlicher Fluchtraum im Drama der politischen Revolution. Sie ist kritisch auf den politischen Diskurs des Stücks bezogen. Die private Existenz gewinnt als bestimmte Negation der öffentlichen Sphäre selbst eine politische Qualität. Zudem zeigt die Privatsphäre im Ansatz das Gelingen genuin gesellschaftlicher Beziehungen. Liebe und Freundschaft sind soziale Beziehungsformen, in denen die Aufhebung von Entfremdung und Isolation möglich scheint. Diese Aufhebung wird im Drama als eine zweifach bedingte gezeigt: sie vermag allein im quasi außerpolitischen Raum der privaten Existenz zu gelingen, und sie steht deutlich im Zeichen der Aneignung des Todes. Auch Julie und Lucile sind Opfer der Geschichte, doch transzendiert ihr Leiden den öffentlichen Zwang der Politik. In ihrer freien Entscheidung zum gemeinsamen Tod mit dem Geliebten gewinnt der Tod mit den Momenten der Freiheit und des Einverständnisses eine menschliche Dimension zurück. Einzig auf privater Ebene kommt eine Vermittlung von subjektivem Anspruch und intersubjektivem Sinn zustande. Die Liebe erscheint im Drama nicht als Idee, sondern als eine Praxis gesellschaftlichen Handelns; die in ihr begründete Identität ist eine soziale Identität. Die von Julie und Danton, von Camille und Lucile gelebte Liebe entwirft - in kleinster Größe - das Modell einer alternativen gesellschaftlichen Existenz. Dieses Gegenbild entfaltet seine volle Bedeutung allerdings erst dann, wenn die Dialektik von privater und öffentlicher Sphäre nicht einseitig aufgelöst wird. Als praktische Kritik bleibt der gesellschaftliche Entwurf jederzeit auf
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